Full text: Zeitungsausschnitte über Veröffentlichungen von Herman Grimm: Über einzelne Kunstwerke

© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 28 
Man betrachte die alte» Gemälde aber, um zu Ahlen, 
w-lche Macht der Kunst tur Beit ihrer Blüthe m Italien 
verliehen war und wie großartigAe sich ihrer bediente. Kann 
eine Begebenheit wie fcic dargestellte i» 
hHl* ttSSe »Wn in bis S^ele dringen als durch den An- 
K ®Ä 9»ie d-s Siiionä hin, Zm mm 
Grads müssen wir die Kunst anerkennen, ant welcher ine 
CopiVd?- Original wirdergiebt. Dir Farben find fv durch. 
utib leuchtend als wären sie alt. 2stan üeht der A-in- 
selfüsrung an wie gründlich Herr Ratti sein Vorbild studirt 
Lat Tizian richtete seine Maleret, nach dem Orte em, den 
Die'Bilder einnehmen hatten. Hier mußte nnt kühnen star« 
ken Zügen der Effekt erreicht werden, dessen eS bedurfte, und 
die Copie hat dies auf das Glücklichste nachgeahmt. Ja, eS 
ist sogar etwas geschehen, was mehr als bloße- Copiren ge 
nannt werden darf. Auf dem Originale erscheint manche- in 
hohem Gradr nachgedunkelt. Herr Ratti hat diese Partien 
lichter und klarer gehalten, und durch das Verständniß, mit 
dem er hierbei verfahren ist, dem Gemälde einen Reiz vw- 
liehen, welchen in dieser Bez'ehung das Original selbst nicht 
mehr besitzt, das, wie bekannt, in der Kirche, in der eS sich 
befand, bis zur völligen Verdunkelung einge^chwärzt war und 
auch nach der Restauration in den unteren Theilen besonders 
dunkel geblieben ist. 
Tizian zeigt die ganze Gewalt feines Colorits auf diesem 
Bilde. Lauter ungebrochene Farben, und nicht eine einzige, 
die nicht zu den nebenstehenden sowohl, als zum Ganzen in 
richtigem Verhältnisse steht. Schreiende- Roth und Grün 
und Blau, und doch kein Ton, drr vorlaut den anderen über 
tönte. Gin so große- Gleichgewicht herrscht in der Färbung, 
daß, wenn man die ganze Leinwand nur den Farben nach 
zerlegen und ohne Rücksicht aus Zeichnung die einzelnen Töne 
aneinander setzen wollte, sicherlich die gleichmäßigste Skala 
daraus entstehen würde, in der keine Farbe sich verdrängte 
und in der auch Licht und Schatten in demselben wohlthuen 
den Verhältnisse ständen. 
Eben so bewunderungswürdig ist di? Kunst, mit der bei 
der Schmallnit des Ganzen die drei übwiqandeUiegenden 
Theile der Composition verbunden sind. Wie die Höhe sich 
rur Mitte herabzieht und die Mitte aus der Tiefe emporstre- 
bend hervorgeht. Schön ist dabei der Gegenlatz de- Irdi 
schen unten zum Himmlischen oben und die Verbindung bei 
der. Die Gestalten der Apostel derb und dunkel in den Tö 
nen, fest an der Erde klebend gleichsam, lauter prachtvolle, 
starke Gestalten. Die Jungfrau dann, die Mitte bildend 
zwischen hier und dort, und Gotwater endlich über ihr ganz 
ideal und im leichtesten Fluge sie in seine offene Arme neh 
mend. Was die Engel umher anlangt, so seift sich in die 
sen freilich am wenigsten drr Einfluß des ernsten Gedan- 
kenS, drr das Gänze erfüll». Diese Kinder i« allen 
denkbaren Verkürzungen wurden allmälig zu einer Art 
Spielerei, wie die Eolorataren etwa, mit denen eine 
Sängerin den vollen Umfang ihrer Mittel zeigt. Die Maler 
suchten sich hier zu übertreffen. Immer neue, überraschendere 
Purzelbäume in den Gewölken erfanden sie für da- kleine 
himmlische Gewimmel, und es kam soweit darin endlich, daß 
in d r That da-Unmögliche gethan ward. Mit dem verglichen 
indeß, was spätere Meister leisteten, hat sich Ttzian hier noch 
sehr zurückgehalten. 
Einfach und natürlich entfaltet sich die Composition. Keine 
Spur von Sentimentalität finden wir in dem Gemälde. Die 
Jungfrau, wie sie die Arme ausbreitend mit ihre« Antlitze 
den Abglanz des Himmel- auffängt, erscheint so wahr und 
leibhaftig wie eine Madonna Rafael-: eS bedarf keiner be 
sonderen Stimmung, um sie zu bewundern. Jeder 
mann erblickt, wa- vorgeht, deutlich, als geschähe e- 
vor seinen Augen, und wäre man selber Zeuge de- 
Ereigm'sseS. Tizian'- Gemälde haben alle diese Eigenschaft, 
vielleicht steht er allem ebenbürtig neben Rafael durch die 
Kraft, den völligen Eindruck des Wirklichen mit einer heite 
rm Verklärung zu vereinigen, so daß uns wird, als sähe er 
die Dinge nur klarer als wir und präparirte nicht erst ein 
besonderes Licht für sie. Sein Gemälde vom Zm-grosche» 
ist das letzte vielleicht der italienischen Schule, auf dem da- 
Antlitz Christi zugleich in überirdischer Schönheit und unbe 
fangener Natürtichkeit erscheint, als hätte er wirklich so unter 
den Menschen gewandelt. Nirgends, so effektvoll Tizian'S 
Wcrke sind, begehen wir bei ihm der Absicht, diesen Effekt 
zu erreichen oder Mängel mit ihm zu verdecken. G- ist seine 
innerst? Naiur, so zu srhen und so zu malen, wie e- die 
Eigenschaft eines RofenbaumeS ist, sich mit glühenden Blü 
then zu bedecken Im Frühling. — 
Das hier ausgestellte Gemälde sollte Niemand zu sehen 
versäumen, der für die Geschichte der religiös» Malerei und 
für Tizian Interesse hat. WaS ich darüber Wagt habe, ent 
hält durchaus keine umfassende Würdigung, sondern soll nur 
dazu beitragen, daraus aufmerksam zu machen. Nicht allem 
jedoch verdient eS als ein Wsrk des großen Benetianer- un 
ters Aufmerksamkeit, auch als Copie ist e- eine bedeutende 
Arbeit, wle d-rm in den letzten Jahren kaum eine mühevol 
lere und zugleich glücklichere unternommen und ausgeführt 
l worden ist Herman Trimm.
	        

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