»««litt.
fMorgewAusgabe.)
Sonnabend, 23. November
Abonnement: für Berlin viertelt. 6^75^ (2^)
für das deutsche Resch u. ganz Oesterreich §Jt (3^)
Bestellungen nehmen an die Expedition, Fran
zösische Str. 51, und sämmtliche Postanstalten.
I K h er l t.
Deutschland. Berlin: der deutsch-russische Grenzverkehr; die
Rechtsanwaltschaft im Reichstag; zur orientalischen Krisis;
Reichstagssitzung; zum Patentschutz; Eidesformel; der preu
ßische Episkopat und die Staatsaufsicht über das Diözesan»
vermögen
Oesterreich-ungarische Monarchie. Wien: das Bankstatut
in der Versammlung der Verfassungspartei.
Großbritannien. London: die Presse über die Audienz des
Lord Lostus beim Kaiser Alexander
Italien. Rom: zur Parteibilduna im italienischen Parlament.
Griechenland. Athen: die Rückkehr des Königs; anS den
Kämmen:.
Nußland und Polen. Odessa: zu den Kriegsrüstungen in
Südrußland.
Amtliche Nachrichten.
Berliner Nachrichten.
Aus dem Reich und den Provinzen.
Verhandlungen des Reichstags.
Parlamentarische Nachrichten.
Militärische Glossen zur Orientfrage.
Wählbewegung.
Berliner Börsenhalle.
an
* Berlin, 24. November.
Der deutsch-russische Grenzverkehr.
In den zwanzig Jahren der Regierung Kaiser Alexan
ders LI., welche Umwandlungen haben die beiden Nachbarn,
Deutschland und Rußland, durchgemacht! Hüben vorwiegend
staatsrechtlich, zwischenstaatlich, drüben hauptsächlich inner
staatlich, volkswirthschastlich. Kaiser Alexander hat zuerst
seinem Volke das Bewußtsein selbständigeren Eigenlebens
eröffnet. Aber während die Entwicklung der Volkskräste für
die innere Gesetzgebung Rußlands auf dem Grunde aufstre
bender Bewegung erwuchs, haben die Regeln des Wechsel
verkehrs mit'Europa keineswegs dasselbe Vertrauen in den
Nutzen erhöhter Bewegung, freieren Austausches gezeigt.
Wir erinnern uns sehr wohl noch der nikolaitischen Zeit
mit ihrem Absperrungssystem, das dem Russen entweder
gar nicht oder nur gegen eine Steuer von 500 Thlr. ge
stattete die Grenze des'Reichs zu überschreiten. Es war das
ein Prohibitivzoll gegen die Einführung bewegender west
europäischer Ideen, fremden Wesens. Heute ist diese unver
ständige Härte gewichen, aber die Grundanschauung, aus
welcher sie stammt, ist geblieben/ Diese Grundanschauung,
die einen vollkommenen Gegensatz zu der Meinung des
übrigen Europa bildet, gipfelt in der Scheu vor zu inniger
Wechselwirkung mit den Abendlande, in dem Widerstreben
gegen die in Europa längst feststehende Erkenntniß, daß jedes
Volk grundsätzlich im eigenen Interesse bestrebt sein muh.
diesen Wechselwirkungen möglichst die Weae zu ebnen. Denn
nur sp gleichen sich widersprechende Interessen im Völkerleben
aus y r 5 11 £ 'snrftfffi: Aufwuckern feindlicher Strömuuae"
Wir in letzte^.AÄ wiedlA, tyuöi
und Hinderungen hingewiesen, welche an^l?er^Ljsischen Grenze
unserem Waarenverkehr sich entgegenstellen. Wir wisse:
bislang nicht, ob diese so alten Klagen hüben oder drüben ein
Ohr gesunden haben, das ein praktischer Leiter zu einer ein
flußreichen Hand wäre. Aber wir meinen, daß es wohl “
der Zeit wäre, solchen gerechtfertigten Forderungen näher
treten. Man sagt uns seit lange, wir seien die besten Freun
Rußlands. Freilich, wir haben erlebt, daß Rußland uns ge
holfen hat, und daß.wir Rußland geholfen haben. Wenig
Vertrauen erweckt aber eilMyreundfchast, bei der der eine
Freund unter viilen Aevesversicherungen stets bestrebt ist,
dem andern kötperljchMnd geistig so fern zu bleiben, als die
Rachbarlich^kWand^v gestattet. Heute, wo wir unzweifelhaft
s himmlische und irdische Liebe,
estochen von Friedrich Weber.
ich Weber in Basel (mit dem ich seit vielen Jahren
befreundet bin) hat mir bereits zu wiederholten
Gelegenheit gegeben, mich öffentlich über seine Arbeiten
zusprechen. Er schafft mit anhaltendem Fleiße weiter
> zeigt in jeder neuen Platte neue Seiten seines Talentes.
Während die früheren Sachen mehr den Stempel der fran
zösischen Schule tragen, aus der Weber hervorgegangen ist
und der er anfänglich ganz angehörte: eine manchmal zu sehr
hervortretende, uns etwas kühl anmuthende Eleganz,
hat er von der Zeit an, wo er nach seiner Vaterstadt
Basel übersiedelte und Gemälde des dortigen Museums
zu stechen begann, seinen Stichen immer größere
Wärme gegeben. Die so wachsende Fähigkeit trieb ihn an,
sich neue Aufgaben in dieser Richtung zu stellen. Hätte mir
-'ber vor zehn Jahren gesagt, er beabsichtige Tizian's
Himmlische und irdische Liebe zu stechen, so würde ich be
denklich gewesen sein wie er damit zu Stande käme. Nach
dem ich in der Folge aber seine Madonna von Lugano (von
Lnini) und sein Portrait Amerbachs (nach Holbein) gesehen,
konnte ich nicht zweifeln, daß es dieses Gemälde bewältigen
werde. Trotzdem machte mich ein Abdruck der begonnenen
Platte, welchen ich im Sommer ans der Münchener Aus
stellung sah, wieder zweifelhaft in Betreff des letzten farbigen
Hauches, der da noch fo ganz fehlte und von dem angesichts
dessen was vorlag nun zu fürchten stand, daß er überhaupt
ausbleiben könnte. Als ich jetzt aber das Blatt aufrollte, das
er mirvor einigenWochenin einemPariserAbdrucke zusandte,war
ich überrascht von der vollendeten Leistung. Die Wiener
Abdrücke, welche ich später in hiesigen Kunsthandlungen sah,
bringen die Platte nicht so zur Geltung. Die Farbe ist
schwärzer und kälter im Ton und manche zarte Linien wirken
n hart. Genau derselbe Uebelstand, welcher sich bei den
'erliner Abdrücken der Bella Visconti geltend machte, die
Weber vor einigen Jahren gestochen hat und die hier heraus
gekommen ist. Ein in Darmstadt gedruckter Probedruck dieses
Blattes, den ich besitze, übertrifft für mein Gefühl alle
spätern Berliner Abzüge. Was jenen in München ausge
stellten Abdruck der unvollendeten Platte anlangt, so sollte
ein Kupferstecher niemals einwilligen, daß seine Arbeiten vor
ihrem völligen Abschlüsse dem größeren Publikum mitge
theilt werden.
Nur wer Tizians Gemälde in der Galerie Borghese selbst
gesehen hat, wird die Schwierigkeiten ganz ermessen, welche
dem Stecher hier sich darbieten.' Ein Zusammen
treffen lebhafter Farben findet statt, welche in bloßes Weiß
und Schwarz zu transponiren fast unmöglich erscheinen muß.
wesentliche Dienste Rußland geleistet haben, leisten, vielleicht
noch leisten werden, hieße es den Werth der Freundschaft sehr
fraglich machen, wenn unsere Reichsleitung es wieder unter
ließe, Rußland an die ersten Pflichten zu mahnen, die solche
Freundschaft mit sich bringt.
Niemand erwartet von Rußland, daß es heute plötzlich
freihändlcrisch werde. Wir wißen sehr wohl, daß das eine
unbillige Forderung wäre, und wir halten jede Forderung für
unbillig, die das 'Interesse des einen Theiles allein berück
sichtigt. Allein so liegt der Fall nicht. Wir haben gefordert
die Abschaffung von Einrichtungen, welche unsern Waaren
verkehr schwer schädigen, ohne Rußland zu nutzen.
Und wir fordern ferner, daß ebenso alle prinzipiellen Hinde
rungen des Personenverkehrs beseitigt werden. Wenn Ruß
land das Prinzip nicht ausgiebt, den Waaren- und Per
sonenverkehr mit Deutschland auf das Unvermeidliche
zu beschranken, so können wir auf die Dauer an seinen guten
Willen, an seine Freundschaft nicht glauben. Wir haben
seit Jahren die Erfahrung, daß Rußland nur mit äußerstem
Widerstreben seine Grenze neuen Bahnanschlüssen öffnete.
Statt sein eigenstes, hohes Interesse darin zu erkennen, daß
ein lebhafter Verkehr mit dem Auslande angebahnt werde
zur natürlichen Durchdringung und Ergänzung der beider
seitigen schlummernden Kräfte, haben nur die äußersten Be
mühungen es vermocht, die wenigen Bahnanschlüsse zu er
möglichen, die wir im Osten haben. Diese Haltung Rußlands
erinnert noch immer an jenen heute nur noch als Stoff für
billigert Witz dienenden russischen Staatsgedanken, das
russische Bahngeleis abweichender Spurweite zu versehen,
damit Europa nicht seine Armeen in das Reich hineinfahren
lassen könne.
Seit Jahren bemüht man sieb bei uns um/Bahuanschlüsse
nach Mlawa in Polen und nach' Tauroggen in dem Gou-
verment Kowno hin. Die Verbindung Königsbergs mit
Mlawa und den südwestlichen,GMkten Rußlands ist eine
eben so billige Forderung, als die Wahnverbindung Mlawa-
Danzig es war. Und von gleich^ Nothwendigkeit ist die
direkte Verbindung Königsbergs mit der nächflgelegenen russi
schen Grenze bei Tilsit. Es heißt, jdie preußische Negierung
beabsichtige, unbekümmert um die wisher stets unveränderte
Weigerung Rußlands/ einen Anschlitz von der Bahn Libau-
Romny aus nach Tauroggen zu ronzeffioniren, den Ban
einer direkten Bahn von Königsberg über Labiau nach
Tauroggen hin zu unterstützen. ' iSollen wir wirklich an
nehmen, daß man russischerseits sort.^'ren werde, den Weiter
bau ait verweigern? Man sagt, Ashland wende ein, cs
bedürfe vorläufig noch allzu sehr m Ä
Bahnn etz im Osten und Süden
sehen wir, daß man siA, i^.R^ffla
bauen, wo die ersten ^n^strack^ng:
/Nutzen derselben felsig des russis^
DkÄ v <$tUübi
,aufgenommen werden. Albe" . .....
finanziellen russischen Gesichtspunl7^».'lbst stellen. Angenom
men, es käme zum türkischen K. 'ge und England bliebe
nicht vollkommen neutral. Erinnert :an sich in Rußland wohl
noch der Zustände, die 1854 und/,1855 eintraten, als aller
Export auf die Landwege an s^ der preußischen Grenze
beschränkt war, alö diese Landweg elSurd) die übermäßige Be
nutzung unfahrbar geworden ware.b^ls schließlich fast aller
Verkehr stockte? Heute freilich lftgd'M unter ähnlichen Um
ständen einige Bahnen offen. A^ftFMe Masse der Waaren
un) Personen, die heute sich »ize drängen aus Ruß
land, ist eine unvergleichlich als damals. Geld
kommt nach Rußland durch Expo:. K'nber der Export würde
bei einem Kriege heute so sehr htzeiR^edrückt werden, daß die
Kredits, um sein
Zubauen. Allerdings
strengt, Bahnen
(^'inem vernüniti
< i !. !fc-u «sibin, i*
dit mit einiger Bo ,^,die
1876. — 29. Jahrgang.
Inserate:
die Petitzeile in der Morgen-Ausgabe)
4 gespalten 35 H (Q&
Abend-Ausgabe 3gespalten 60'\ (6A).
finanzielle Schädigung Rußlands eine weit größere wäre, al^
sie 1855 war. Nicht die Ausgrabung neuer Produktionsquellen
rst die drängende Aufgabe in Rußland, sondern die Oeffnung
neuer Abflüsse für die vorhandenen Produkte, Eine Million
Centner Getreide mehr am Ural oder in Pensa ist weniger werth
als tausend Centner mehr an der Küste oder an der West
grenze. Und mit diesem russischen Interesse fällt unser deut
sches zusammen. Nur Blindheit kann behaupten, der Tran
sitverkehr über Deutschland schädige die russischen Häfen. Es
erinnert an die Habgier, welche nicht zum Essen kommt, weil
sie sich damit beschäftigt, die abfallenden Brocken dem Nach'
bar wegzuschnappen. Und das ist nicht das wahre Motiu
der russischen Absperrung. Es ist die Indolenz und das
Mißtrauen. Solche Motive zu überwinden ist aber die Auf
gabe unserer Reichsregierung. Wenn man in Rußland laute
Beschwerde erhebt über das politische Mißtrauen Englands^
was soll Deutschland sagen zu dem Mißtrauen seines „besten
Freundes?"
Die Rechtsanwaltschaft im Reichstag.
Die heutige Verhandlung des Reichstags über den Titel
von der Rechtsanwaltschaft, welchen die Kommission dem
Gerichtsverfassungs-Entwurf eingefügt hat, bewegte sich auf
einem nach zwei Seiten streng eingegrenzten Felde. Niemand
hat die Nothwendigkeit in Zweifel gestellt, daß spätestens
gleichzeitig mit Einführung des neuen Civilprozeffes die Ver
hältnisse der Anwaltschaft eine den Bedürfnissen des öffent
lich mündlichen Verfahrens und des freien Prozeßbetriebes ent
sprechende Regelung erbalten. Niemand hat auf. der
anderen Seite' die einzelnen Vorschläge der Kommission
anders als nur obenhin berührt. Es blieb ledig
lich eine Frage der zweckmäßigen Geschäftsbehandlung
übrig. Vom Bündcsrathstische erging bestimmt und nach
drücklich wiederholt die Erklärung, daß die Regierungen bereit
seien, eine Anwaltsordnung für das Reich zu erlassen, und
daß ein Entwurf derselben vom Reichskanzler bereits dem
Bundesrathe vorgelegt worden, daß man es aber ablehne, an
einer Berathung der einseitig von der Kommission entwor
fenen und keinesfalls den Gegenstand erschöpfenden Bestim
mungen theilzunehmen. Sollte nun der Reichstag auf
diese' Ankündigung hin die Beschlüsie seiner Kommission
ohne weiteres fallen lassen, oder sollte er an
denselben festhalten, bis eine ins Einzelne gehende
Erklärung des Bundesraths dafür Bürgschaft g-cke,
daß wenigstens die jenen Beschlüssen zu Grunde
liegenden Hauptgedanken auch für die angekündigte An-
waltsordnung die Richtschnur bilden? Die Kommission hast
nicht aealaubst.dr ''^Verweisung aus die Zukunft in eine..
künftige
ir wollen uns auf den.-mit bestimmten Sätzen zu bezeichnen, daß durch die vorbe-
haltenene Ergänzung kein Mißverhältniß und keine schwere
Unzuträglichkeit mehr hexbeigeführt werden könnte. Der Civil-
prozcß, wie er von der Kommission beschlossen worden, ersordrt
nicht eine Anwaltschaft überhaupt, sonst hätte sie auch in
beliebig mannigfaltiger Gestalt wie bisher fortbestehen mögen,
sondern eine Anwaltschaft von ganz bestimmter Art, von
solcherZahl, Tüchtigkeit und Frische nämlich, daß sie den
ungleich größerenAnforderungengenügenkann, welchedieMünd-
lichkeit des Verfahrens und der freie Prozeßbetrieb an sie stellen..
Es ist nicht zu viel gesagt, daß diese beiden Grundbedingungen des
neuen Prozesses das Schwergewicht der Leistungen auf
den Anwalt überwälzen und darum war es unmöglich, die
zweckentsprechende Gestaltung dieses Organs dem Zufall von-
Keine Photographie des Gemäldes hat ein erträgliches An
sehen. Hell und Dunkel stehen 'sz. greller Abstufung neben
einander. Und trotz dieser Kov^'.ffste' sehen wir doch wieder
die zartesten Mitteltöne wirksam^ neben den lichten Farben
massen, welche eigentlich nichts neden sich auskommen lassen
sollten.
Tizian's Gemälde ist doppelt sio lang als breit, die Fi
guren sind unter Lebensgröße gehalten. Zwei weibliche Ge
stalten bilden ans dem rechten'und! linken Theile des Bildes
gleichsam jede für sich die Mitte. ' Wir sehen sie, hier und
dort, an den beiden ,Enden eine-s breit sich hinziehenden
marmornen Sarkophages sitzen, dstr, wie oft in Italien
geschieht, nun als Wassertrog dient, aus dem das Wasser
durch eine Röhre in den Vordergrund fließt, welchen dichtes
Gras und Blumen füllen. Von diesen beiden Ge
stalten, deren Antlitze vom ' zartesten Helldunkel
angehaucht sind, ist die eine, zur Rechten, völlig nackt. Halb
sitzend, halb gleichsam nur ausgestreckt sich auflehnend, "hat
sie am einen Ende des Sarkophages! Posto gefaßt. Ein leich
ter Flor umhüllt ihren Schooß, ein faltenreiches, lang herab-
wallendcö Gewand ist um ihren linken erhobenen Arm, zwischen
Schulter und Einbogen, fest umgewunden, so jedoch, daß es nur
diesen einen kleinen Theil des Körpers verdeckt, während es
übrigens in aufgebauschtem bewegten Faltenwürfe hinter der
Figur hinabfällt und so für die Line Seite zum Hinter
gründe wird. Ein Haupteffekt der Malerei ist, wie die reine
Schönheit der Gestalt sich von diesem Gewände abhebt. Mit
dem rechten straff aufgestellten Arm stützt die Gestalt sich
auf den Rand des Sarkophages auf und neigt sich hinüber
zu der zweiten Gestalt an seinem anderen Ende drüben, welcher
ihr Profil wie fragend zugewandt ist. In der Hand jenes
anderen linkem halb erhobenen Armes, um den das Gewand sich
windet, trägt sie ein die Hand eben füllendes, stach vasenartiges
Gesäß, aus dessen engem Halse ein zarter Rauch sich in die
Höhe zieht und in die Wolken der Landschaft scheinbar ein
fließt. Das gewellte, blonde Haar, über der Stirn gescheitelt,
ist schlicht dem Nacken zugestrichen. Die beiden Füße sind
an den Knöcheln über einander gelegt, so daß der eine, linke,
allein sichtbar ist, wie er sich in das weiche Gras, auf dem
er steht, leicht eindrückt. Von diesem Fuße auswärts, zum
Knie, zur Hüfte, zum Arm empor, läuft eine fast gerade
Linie, wie nur Tizian vielleicht sie malen konnte, während
nach der anderen Seite der Umriß in wundervollen Wendun
gen Schenkel, Leib und Brust umschreibt.
Wer, außer Tizian, hätte diesen, unverhüllten Körper so
darstellen können? Diese Vereinigung von tadelloser Rein
heit und warmem Leben? Tizian ist der Maler des Lebendi
gen. Jeder Künstler, sagte Lawreme, lernt mit mehr oder
weniger Mühe ein Auge malen, Niemand aber „einen Blick",,
wie Tizian. Die Schönheit einer Frau besteht für den, dessen
Empfindung lebhaft davon betroffen wird, gewiß nicht in
Dingen, die sich in einem malerischen Examen abfragen
ließen. Der flüchtige Wechsel der Farbe, die Unruhe eben
sosehr als die Ruhe, das Unbestimmte entzückt ebensosehr als
das fest Erkennbare, als das, was sich als Umriß und deut
liches Kolorit darbietet. Man braucht kein Maler oder Kunst
verständiger zu sein, um über die Schönheit einer Frau zu
reden. Für diese ungelehrten Leute gerade malte Tizian.
Das Flüchtige, Allgemeine, was bei jedem Blicke anders
erscheint, weiß er darzustellen. Er hält fest was festzuhalten
unmöglich scheint. Der Eingeweihte erkennt die Kunst und
glaubt im Geheimnisse zu sein, er entdeckt in der That einen
Theil der künstlerischen Kraft und der angewandten Mittel.
Wie aber kann es gelingen, diesen Pinftlzügcn mit dem
Grabstichel nahe zu kämmen? Und doch wird man zugestehen,
daß es Weber hier wohl gelungen sei. Darin aber zeigt sich
die Genialität eines Kupferstechers, daß er auf seinem Felde
leistet, was zu leisten kaum möglich schien.
Diese nackte Gestalt, von der ich bis jetzt allein gesprochen
habe, wird die Himmlische Liebe genannt. 'Der aus dem Ge
fäße aufsteigende, mit den Wolken des landschaftlich reich an
gelegten Hintergrundes sich vermischende Rauch deutet es an.
Ein Paar Schmetterlinge, welche um. eine Blume spielen, die
neben ihr im Grase steht, weisen ebenfalls darauf hin.
Auch entspricht diese Bezeichnung ihrer ganzen Erscheinung,
obgleich nirgends ein sichtbares Mittel angewandt ist, diesen
Effekt hervorzubringen. Sie hat'nicht eigentlich das Aussehen
eines jungen Mädchens, sie erinnert etwas an eine Eva, die
auch gleich bei ihrer Erschaffung in den Formen einer Frau
dargestellt zu werden pflegt.
Erhöht aber wird, das „Himmlische" ihrer Erscheinug!
durch die Gestalt auf der linken Seite des Gemäldes, am
anderen Ende des Sarkophages, deren irdischer Schmuck
einen absichtlichen, gewollten Gegensatz zu ihr bilden soll.
Nicht eigentlich' auf, sondern neben dem Sarkophags
tiefer also als jene, dasitzend, erscheint die Gestalt zur
Linken bis auf die i» Handschuhen steckenden Hände im vollen
breiten Pompe einer festlich geschmückten Venetiauerin. Sie
trägt ein in herrlichen Falten' sich um sie aufstauendes Kleid.
Kein ideales unbestimmtes Gewand, sondern ein Kleid, das
schwere Dukaten gekostet hat. Hier erkennen wir Tizian
recht als den Schüler Giorgione's, welcher, unbekümmert
um den zarten Faltenwurf der antiken Statuen, seine eigenen
in einander geknickten und geknautschten venetianischen Pracht
falten schuf, die wir dann durch die gesummte venetianische Kunst
hinrauschen sehen. Von Giorgione hat Tizian, und besonders
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