Full text: Zeitungsausschnitte über Veröffentlichungen von Herman Grimm: Über einzelne Kunstwerke

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und zugleich bleiben immer noch auch die Farben genug er 
kennbar, um allen Zweifel darüber schwinden zu lassen, daß 
Zeichnung und Malerei, wie diese jetzt beschaffen ist, einander 
nicht decken. Die Farben zeigen ein gezogenes Antlitz mit 
schmaler Nase bei verhältnismäßig eng zusammenliegenden 
Augen (entsprechend dem in früheren Zeiten in der Akademie 
von San Luca gezeigten falschen Schädel Raphaels), während 
die darunter liegende eingeritzte Zeichnung ein eher rundes 
Antlitz erkennen'läßt, das in seinen Proportionen dem Holz 
schnitte entspricht, welchen Vasari seinem Leben Raphaels als 
Bildniß vorgesetzt hat und dessen vermeintliche Unrichtigkeit 
man bisher nicht erklären konnte. Rumohr meinte, der 
Spiegel, in welchem Raphael sich gesehen, sei nicht glatt, son 
dern sphärisch gewesen, so daß seine Züge in unmerklicher 
Entstellung zusammengedrängt hätten erscheinen müssen. 
Ich halte Carlo Maratta, den berühmten Restaurator der 
Schule von Athen, für den ersten Urheber des umgestaltenden 
Prozeßes. Marasta hat seine Ansichten über Raphaels 
Kopfbildung in einer Marmorbüste verewigt, welche heute in 
der Sammlung des Konservatorenpalastes zu Rom befindlich 
iit und nach deren Vorbild die späteren italienischen Büsten 
Raphaels sämmtlich gearbeitet zu sein scheinen. Sie trägt 
alle die Eigenschaften, welche auch die heutige Malerei aus 
der Schule von Athen auszeichnen. 
Photographien der betreffenden Stelle der Schule von 
Athen sind überall billig zu kaufen. Vasari's Holzschnitt 
findet sich fast in allen Ausgaben, auch in der bei Cotta er 
schienenen deutschen Uebersetzung. Was den ächten Schädel 
Raphaels anlangt, so erlaube ich mir eine Anfrage. 
In einem Berichte über die Aufdeckung des Grabes 
Raphaels in der Rotunde zu Rom, welche am 9. September 
1833 stattfand, habe ich gelesen, es sei von den über den 
Schädel gemachten Gypsabgüssen einer für den Kronprinzen 
von Preußen (Friedrich Wilhelm IV.) bestimmt und nach 
Berlin gesandt worden. Es ist mir nicht möglich gewesen, 
eine Spur dieses Abgußes zu entdecken. Sollte einer der 
Leser der „National-Zertung" darum wißen, so bitte ich ihn, 
mir einige Worte zukommen zu laßen, falls er es nicht vor 
zieht, öffentliche Mittheilung zu machen. Einen Abguß des 
falschen Schädels besaß seiner Zeit Goethe, der ihn in hohen 
Ehren hielt. 
Berlin, den 27. November 1878. H. Grimm.
	        

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