© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 27
Der kurze Lebensweg des Professors Dr. Marc Chilf.
Im Wiltt»? 1896—97, als ich über Raphae! las, Dcmeifte
ich auf eiW^oer votdersteu Bänke, links am Fenster, eine kleine
Iren angestrengte Aufmerksamkeit sich mir allmälig
bemr^kksch machte. Wie' armselig zusammengeschoben er war,
s-ch^ich erst bei seiner Meldung. Er stellte sich mir als
Marcus Chilf ans Ungarn vor und prodnzirte ein Schreiben
des Professors Weiß-Schrattcuthal zu Preßburg, der ihn mir
als seinen besten Schüler empfahl. Daß Chilf damals erst eben
zwanzig Jahre alt geworden war, sah ihm gewiß Niemand an.
Er hatte eine Stirn und eine Sprache, welche verriethen, viele
innere Schicksale seien schon durch ihn hindurchgezogen, wie eine
Armee, die ein Land aussauat. Bucklige haben oft keine sichtbare
Jugend, sie treten als alte Leute in's Leben.
So lud ich ihn mehrfach zum Essen ein und bemerkte, wie
'.i-, in großer Zurückhaltung, immer jedoch in voller Gntmüthig-
keit sich äußernd sich die Zuneigung derer erwarb, die mit zu Tische
saßen. Ich erfuhr, daß er auf ein Examen hin sogar schon das Recht
befaß, sich Professor zu neunen. Heute, wo ich zum ersten Mal
sein wirkliches Alter erfahre, da er im fünfundzwanzigsten
Jahre feines Lebens starb, erstaune ich über die Bescheiden»
heit und frühe Reife Chilfs, der, wenn er sprach, präcis und
einfach und ohne persönliche Ueberhcbung seine Meinung vor
brachte. Daß er auf dem israelitischen Friedhofe in Budapest
den 19- Dezember 1899 (am Tage nach seinem Tode) begraben
ward, überraschte mich, denn er hatte nichts Jüdisches in seinem
Wesen. Er war der Sohn eines nicht mit Glücksgülern gesegneten
Schauspielers. Niemand in seiner Familie begriff den Gang, den
er bei seinen Studien einschlug. Er sprach mir einmal darüber,
aber als liege das längst hinter il>m. Nach Berlin kam er mit
einem Stipendium der Regierung. Es sei ihm, be
richtete er weiter, eine Biblivthekarstelle iu Budapest be
reits zugesagt. Seine Absicht in Betreff einer Lebens
arbeit sei. ungarische Dichter durch Uebertragnng ins
Deutsche außerhalb Ungarns bekannter zn machen. Sein
Hauptstudium war deutsche Literaturgeschichte. Er patte viel
gelesen und «in richtiges Urtheil. 3# '»erkle bald wie werthvoll
.
ein Schüler dieser Art Prof. Weiß-Schratteuthal gewesen sei.
Das Studium der deutschen Literatur wirkt erhebend und ver-
edelnd. Durch Goethe ist sie zu einer Höhe erhoben worden,
die man hetite noch bei weitem nicht Allgemein genug
empfindet. Es wird erst noch starker Schicksalsweuduugen bei uns
bedürfen, bis die Macht unserer Dichter, die Menschheit
über das Alltägliche emporzutragen, iu vollem Umfange er
kannt werden wird. Diesem von der Natur mißhandelten
ungarischen Juden war der Adel derer mit zu Theil geworden,
die, gleich ihm, im Umgänge mit Goethe und den Seinigen
emporstreben.
Chilf war an Existenzmitieln viel ärmer, als ich wußte.
Aber er brauchte fast nichts. Er wohnte iu Moabit in einem
Hinterhanfe, dessen Fenster in den Garten gingen. Ost ver-
schwand er auf längere Zeit, weil er krank war. Und doch
hat er sicherlich in Berlin die schönste Zeit seines Lebens zu
gebracht. Ich machte ihn mit seinem Landsmanne Joachim
bekallnt, worauf sich daun zeigte, daß Musik ihm ein Hochgenuß
war. Dieser konnte ihm nun oft verschafft werden. Dann
ivurde er Frau von Kendell von mir vorgestellt, der edlen
Frau, die cs in der Macht, Leute nnmerklich in diejenige Luft
schicht zu versetzen, die ihrem höheren inneren Wesen die an
gemessenste ist, sehr weit gebracht hat. Diese lud ihn manchmal
zu Tische ein. und ein sicheres Zeichen der Vortrcfflichkeit
Chilfs war die Zuneigung, die die Kinder im Hause dort zu
ihm faßten. Da habe ich ihn Abends sitzen sehen, wenn
Joachim spielte, den Frau von Keudell begleitete. Seine
Füße gingen voin Stuhle kaum auf den Fußboden herunter.
Die Aufmerksamkeit, mit der er behandelt wurde, ließ die
übrigen Anwesenden empfinden, welcher Werth auf den kleinen
Mann gelegt werde, der still beglückt sich ruhig auf seinem
Platze hielt.
Als Joachim zum letzen Male nach Budapest ging, suchte
er Chils auf, um ihm ein Billet zu seinem Konzerte zu bringen.
Aber er sah ihn nicht, denn eine Brustkrankheit machte ihn
bettlägerig. Bald darauf starb er. Seine letzte Stellung war die
eiueö Lehrers in einer Mädchenschule gewesen. Seine Schule-
rinnen hingen an ihm. „Ich unterrichte." schrieb er mir in,
November 1897, «im hiesigen Mustergymnasium und habe meine
Schüler recht lieb. Gegenseitiges Zutrauen verbindet uns. und
es träumt sich so gut iu die selige Kinderzeit zurück. .
Ich empfand einen Drang, über das kurze Leben des jungen
Mannes einige Worte niederzuschreiben. .
Ende Dezember 1899. Hrrman Grimm.
“ationalzeitung- Morgenausgabe
Nr.228, 1900,Apr.7, 3.1