© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 27
jß 4. Erste Beilage M König!, privilegirten Berlinischen Zeitung. 1862.
Sonntaa den 5. Januar.
Erlüge Gedanken über Herr von Varnhagens
Tagebücher.
Die beiden Bände Tagebücher, welche als Fortsetzung
der Korrespondenz mit Humboldt aus dem Nachlasse Varn
hagen von Ense's herausgekommen sind, haben kürzere Zeit
die öffentliche Ausmerksamkeit beschäftigt, als unter andern
politischen Verhältnissen der Fall gewesen wäre. Im Ver
gleiche zum Briefwechsel sind sie fast spurlos vorüberge
gangen.
Für diejenigen ledoch, welche Autor und Verhältnisse
näher kennen, erneuen diese Bücher ein Problein, das jetzt
bei weitem schärfer hervortritt: die Frage, ob die Heraus
gabe dieser Papiere mit Varnhagen's Willen erfolgt sei.
Der nachfolgende Aussatz theilt die Gedanken mit, die
mir über diesen Vorwurf gekommen sind.
Als ich die beiden Bände Tagebücher durchlesen hatte,
glaubte ich, sie würden am nächsten Tage confiscirt werden.
Es ist nicht geschehen. Wenn irgend etwas Zeugniß ab
legt für den Fortschritt in Preußen, so ist es dies. Wenn
eine Regierung gestatten zu dürfen glaubt, daß Bücher, in
denen solche Dinge gesagt werden, ungehindert in aller
Welt Hände kommen, so ist es ein Zeichen, wie sehr man
zur Ueberzeugung gelangt sei, daß in geistigen Dingen Ver
bote unnütze Maaßregeln seien. Denn wen vermögen heut
zutage solche Verbote zu verhindern, nicht dennoch zu le
sen, oder, wenn auch das Lesen erschwert würde, wem ma
chen sie eö unmöglich, weiterzuerzählen oder sich erzählen
zu lassen, waS die verbotenen Schriften enthalten?
Vor zwanzig Jahren konnte man glauben, ein Buch,
oder nur ein paar Sätze eines BucheS möchten erschütternd
gefährlich sein, heute kommt das in einem Lande wie Preu
ßen Niemand mehr in den Sinn. Kein Mensch wird den
ken, all diese Dinge, die in Varnhagens Aufzeichnungen
wie lauter scharfe Hiebe stehen, könnten in den Fragen,
von deren glücklicher Lösung allein heute das Wohl des
Landes abhängt, eure andere Entscheidung eintreten lassen.
Die Ueberzeugungen, die sich bei Jedem längst gebildet ha
ben, werden dadurch nicht geändert. - -
Denn diejenigen, welche heute überhaupt wissen, warum
es sich handelt, wußten diese Geheimnisse längst, sie
waren ein Theil ihrer Lebenserfahrung; und denen,' welche
sie nicht bereits wußten, kann trotz all dem Anschein
von Enthüllung ungeahnter Neuigkeiten doch nichts eigentlich
Neues in dem Buche gesagt werden. Für Andere enthält
dasselbe nichts als Geschwätz, das ohne Folgen vergessen
werden wird. Denn was sollen sie thun mit der fragmen
tarischen Beurtheilung von Charakteren, die ihnen nicht
aus anderer Erfahrung, als der hier gebotenen, anders
bekannt sind, und mit Anekdoten, deren Zusammenhang
mit den großen Ereignissen ihnen unbekannt sein muß,
wenn sie. ihn nicht aus eigener Kenntniß herzustellen ver
stehn? Varnhagens Tagebücher enthalten nichts als in ge
druckten Zeichen ein Abbild dessen, was für Berlin seit Jahr
zehnten lebendiges Eigenthum war. All diese Geschichten
und Betrachtungen bildeten, als Varnhagen sie niederschrieb,
Gemeingut ganzer Schichten der Gesellschaft. Einiges viel
leicht nicht in so ausgedehnter Weise, dies aber kaum das
wichtigste. Wichtig sind die Züge allein, welche die bedeu
tenderen Erscheinungen betreffen. Siebensachen, auch noch
so pikant 311 lesen, verlieren ihre scheinbare Wichtigkeit
bald und bleiben unfruchtbarer Ballast für die Geschichte;
etwa wie es für die Geschichte von Hamburg gleichgültig
ist, daß neulich dort ein Löwe aus seinem Menageriekasten
auöbrach, ein Pferd umriß und dann geknebelt und getöd-
tet ward. Mag man sich wochenlang davon unterhalten
chaben, es war ein Vorfall, aber kein Ereigniß.
Niemand, glaube ach, wird die Wahrheit der meisten
Dinge bestreiten, welche Varnhagen mittheilt, Niemand aber
auch, der die Dinge miterlebt hat und die Leute kannte,
wird zugeben, daß diese Darstellung die Wahrheit im besten
Sinne gebe. Daö ist das erste Wahrzeichen der Tage
bücher, daß sie stets nur eine einzige Seite scharf beleuchten.
Varnhagen scheint vor den Menschen gchanden zu haben
wie die Astronomen vor dem Monde: sie blicken ihn an
mit ben schärfsten Gläsern, sehen aber doch nur die eine
Hälfte, die er ihnen zukehrt. Varnhagen spricht mit con-
centrirter Abneigung über Schelling, Bunsen, Savigny.
Es ist ihm nicht möglich, das mindeste Gute an ihnen zn
entdecken. Auch scheint er eö gar nicht zu wollen. Wäre
er befähigt gewesen, diese Männer zu übersehen, rund, Alles
an ihnen, er hätte, unbeschadet semes Hasses, das Große
und Gute an ihnen gewahren müssen; so aber ver
liert er, beherrscht von dem einzigen ihnen widerstrebenden
Gefühl, diese Fähigkeiten ganz, und wo er an sie denkt, ist
er gezwungen mit Aerger an sie zu denken. Noch seltsa
mer tritt diese Machtlosigkeit, sich über die eigene Stim
mung zu etheben, hervor, wo sein Gefühl wechselt. Zum
Beispiel wo er über die Brüder Grimm urtheilt, die er
einmal mit Lob, das andere Mal mit Tadel überschüttet,
in beiden Fällen aber unter dem Einflüsse einer zufälligen
Geistesverfassung, die mit dem Wesen derer, die erbespricht,
durchaus nichts zu thun hat. Zuletzt also fragen wir, wie
entstanden solche Stimmungen und was regierte sie.
Ich habe Herrn von Varnhagen lange Jahre gekannt,
ihn nicht oft, zusammengerechnet aber, viel gesehn, lange
und gern mit ihm gesprochen. Er gehörte zu den Naturen,
denen auf nichts eine angenehme Antwort fehlt. Mit un-
gemeiner Geschicklichkeit wußte er zu empfinden, was
man sagen wollte,' und wo eö nur zum Theil aus
gesprochen, war, das Fehlende hinzuzusetzen. Er ge
hörte zu den Männern, die Geist tnt Ueberflusse haben,
auch das Unbedeutende als bedeutend aufzufassen, denen
Kenntnisse und Erfahrung die Macht verleiht, jeder Aeu
ßerung des Geistes und des Lebens eine Stelle anzuwei
sen, an der sie berechtigt und angemessen erscheint. Alexan
der von Humboldt vesaß diese Kraft im höchsten Grade.
Er sah die Fäden überall zwischen dem Menschen und dem,
was er momentan äußerte, ging auf jedes Verhältniß ein,
fühlte heraus, wohin man wolle, und drängte auf den
Fortschritt. Aber wie Humboldt hierin etwas belebendes
hatte, was Varnhagen abging, so war auch, wo er haßte
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so viele getroffen haben, einen bedeutenden Unterschied
macht.
Varnhagen wurde leidenschaftlich wenn er über einen
Menschen sprach, der ihm zuwider war, Humboldt blieb
ruhig; desto ironischer, bitterer, schneidender klangen seine
Worte. Er konnte mit vernichtendem Spotte denjenigen ab
thun, auf den es abgesehen war. Aber es lag etwas wissen
schaftliches in seiner Art sich auszudrücken. Es war, als suche er,
ohne sein persönliches Gefühl hineinzumischen, das geistig
specifische Gewicht deS Menschen auszudrüaen. Als theilte
er nur Beobachtungen mit, zum allgemeinen Nutzen zn
verwerthen. Er hatte ein Bedürfniß, exact zn sein. Be
hagen daran, seine Geistesüberlegenheit an denen auszu
lassen oder über die zu ergießen, die er nicht liebte, lag
in seinen Worten nicht. Er sagte auch: der oder der haßt
mich, wo Varnhagen gesägt hätte: den oder jenen hasse ich.
Humboldt sprach über seine Gegner als wären es schädliche
Substanzen, deren Eigenschaften zu nennen keine Beleidi
gung enthalten sollte; wie wenn er vom Arsenik ausspräche
es sei ein tödtliches Gift mit eigenthümlichem Gerüche,
worin weder die Absicht liegt, das Arsenik herabzusetzen,
noch ettva die, es von der Erde vertilgell zn wollen. Varn-
! Hagen war gereizt und hätte sich rächen mögen.
i Varnhagen erreicht Alexander von Humboldt weder in.
der Kraft, gleich das schlagende Wort zu finden, noch in
der Gelassenheit, mit der es ausgesprochen ward. Für
Hunrboldt waren dergleichen Dinge zufällige Gedanken
schnitzel, Varnhagen lebte und webte dann. Humboldt war
ein Mann, der vonvärts schritt auf einer großen weit über
solchen Niedrigkeiten erhabenen Laufbahn; um sich als daS
zu fühlen, was er war, brauchte er Niemand zu beneiden^
den großen allgemeinen Weltfortschritt jm Auge haltend.