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sches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 27
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selbst wird dadurch, daß er zum allerverächtlichsten Schuft
gemacht ist, die geschichtliche Wahrheit außer Acht gesezt.
Unter den Possen oder Darstellungen des gemeinen
Lebens war eine der wahrheitstreuesten „das Fest der
Handwerker," eine Schilderung der Sitten der arbeitenden
Klassen, ihres Trinkens, Rauchens, ihrer bezechten Em
pfindsamkeit, und eine der ergötzlichsten: „Zu ebener Erde
und erster Stock, oder die Launen des Glücks." Außer
diesen und ähnlichen Stücken, z. B. dem schon im Titel
komischen, zwerchfellerschütternden „Lumpacivagabundus,"
gehörte zu den beliebtesten dramatischen Unterhaltungen in
Westdeutschlaitd eine Reihe von Possen, in denen der ächte
„Frankfurter Stadtborger" in der Person eines „Herrn
Hampelmann" lächerlich gemacht wird. Sein Darsteller
— ein recht gewandter witziger Schauspieler in derartigen
Charakteren, Namens Hassel — ivar ein so großer Lieb
ling, wie bei uns in England Liston; doch erinnerte seine
Spielweise mehr an die Odry's in den Pariser Varietes.
Die meisten Leute der Art, welche Herr Hassel vorführt,
gelten nicht eben für kenntnißreich. So fragt z. B. Herr
Hampelmann, der von „zwei Häusern" in England gehört
hat, eine Daine, die nach London reisen will: „Wo werde
Se dann hin ze wohne komme? ins Oberhaus oder ins
Unnerhaus?"
Damit könnte ich vom Theater aufhören. Eins aber
muß ich doch noch zur Sprache bringen, was selbst solchen,
die, wie ich, nicht überstreng sind, verletzend klingt. Das
ist das beständige Profaniren des Namens brr Gottheit.
In der Tragödie wie im Lustspiel, im Schauspiel wie in
der Posse hört man immer und immer wieder ein: „Gott!
— lieber Gott! — guter Gott! — mein Gott! — großer
Gott! — Gott bewahre u. s. w." bis zum Wehthun an
gebracht. Das Gleiche geschieht wohl auch mitunter im
gewöhnlichen Gespräch; allein da fällt es nicht so anstößig
auf, als wenn die Worte in den lauten Antönungen der
Bühne ausgestoßen werden.
Vom Theater zum Tod ist ein seltsamer Sprung.
Ich komme aber darauf zunächst durch eine Posse, „der
Verstorbene," in welcher eine Todesanzeige zu einem
Haupthebel des Lächerlichen gemacht wird, um zu zeigen,
wie langsam die Einwohner einer deutschen Stadt
und das gilt nicht bloß von Karlsruhe, sonderil von
vielen, ja vielleicht allen in Süd- und Norddeutsch-
lanb — von einem alten Brauche, und wäre eö auch ein
abgeschmackter, loskommen. Wenn nämlich ein Familien
glied stirbt, so lassen es die Ueberlebenden nicht bei einer
kurzen Anzeige des Hintritts bewenden, sondern in der
Zeitung oder dein Lokalblatt erscheint ein langes Inserat,
in dem Verwandte, Freunde und Bekannte um Theilnahme
und Trost gebeten werden. Ein Mann, der den Tod sei
ner Frau anzeigt, sagt z. B.: „Nach einer nur sechsjäh
rigen, aber sehr glücklichen Ehe lastet dieser unersetzliche
Verlust um so schwerer auf mir, als ich der Vater von
fünf unerzogenen Kindern bin. Ich bitte um stille Theil
nahme." Eine andere Anzeige lautet wörtlich wie folgt:
I „Nach seinem unerforschlichen Rathschluffe hat es Gott
, gefallen, mich heute einer heißgeliebten Gattin und meine
beiden Kinder ihrer vortrefflichen Mutter zu berauben.
Sie starb an einem entzündlichen Fieber in ihrem 28sten
Lebensjahre, und folgte nach nur vier Monaten ihrem
lieben Vater in das ach! nur zu bald wieder geöffnete
Grab." — Namen und Datum. — Allerdings wird oder
sollte kein menschlich Fühlender solchem Unglück seine Theil
nahme versagen; allein im künstlichen Zustande, in dem
wir leben, dürften, fürcht' ich fast, derartige Anzeigen
unter den gewöhnlichen Ankündigungen eines öffentlichen
Blattes gleichgültige, wo nicht gar leichtfertige Leser fin
den, und das ist auch natürlich oder erklärlich, wenn man
bedenkt, daß ja die, die fie lesen, nicht wissen können, ob
sie der Ausdruck wirklichen Schmerzes oder nur ein glciß-
nerisches Mitmachen des bestehenden Gebrauchs sind. Ein
solches Zuschautragen seines Leids hat vielleicht seinen
Grund in der Wichtigkeit, die ein Deutscher allem, was
mit ihm oder seinen Angelegenheiten zusammen hängt,
beizulegen pflegt. Ein sentimentaler Fleischer z. B., der
wegen Krankheit seinen Geschäften nicht mehr vorstehen
konnte, zeigt seine Wiederherstellung in einem langen In
serat an. Die Genesung eines Kaisers hätte nicht pom
pöser verkündigt werben können. Und damit noch nicht
zufrieden, hängt er noch ein viel längeres Inserat seinem
ersten an, worin er seinem Arzt seinen Dank ausspricht:
„den ich," sagt er, „aus Grund meines Herzens meinen
Mitbürgern bei eintretendem Falle als einen Mann em
pfehle, der, treu seinem Berufe und keine Mühe scheuend,
den Leidenden unausgesezt Hülfe und Trost bringt. (Unter
zeichnet) W. H., Metzgermeister." Hier finden wir aber
mals höchst lobenswerthe Gefühle durch ihre Aeußerung
am unrechten Ort lächerlich gemacht.
Mit der Statistik von Karlsruhe werbe ich mich nicht
befassen. Das Großherzogthum Baden hat den hoch an
zuerkennenden Ruhm, unter den Staaten Europas in Be-
! zug auf bas Verhältniß seiner Schüler- zu seiner Einwoh
nerzahl der zweiterste zu seyn. Es hat, bei einer Be
völkerung von etwa 1,250.000 Seelen, zwei Hochschulen
und sonstige öffentliche Lehranstalten aller Art. In Karls
ruhe ist eine „polytechnische Schule," wo die Wissenschaften,
neuere Sprachen und einige Zweige der Künste und Ge
werbe gegen ein „Honorar" für jeden Besuchenden von
jährlich sechzig bis hundert Gulden gelehrt werden, und
in dem „Lyceum," wo junge Leute von zehn bis achtzehn
Jahren für die Universitäten vorbereitet werden, ist das
! jährliche „Didactrum" noch mäßiger. Auch für den weib-
! lichen Unterricht ist nicht minder gut gesorgt. In der
! „höhern Töchterschule," welche von sehr tüchtigen Lehrern
und Lehrerinnen geleitet wird, erhalten die Schülerinnen
der obersten Klasse Unterricht im Französischen, Aufsätze-
machen, Erdbeschreibung, Geschichte, Literatur u. s. w.
für jährliche sechsunddreißig Gulden, während Privat
lehrer französischen Sprachunterricht, täglich eine Stunde,
für ein monatliches Honorar (doch wohl nur wenn mehrere
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Schüler beisammen sind) von einem Gulden zu geben sich
erbieten. Selbst auf den Universitäten belaufen sich die
Ausgaben eines Studirenden nicht leicht auf mehr als
sechshundert Gulden.
Bei alledem steht — das läßt sich nicht leugnen —
der Oberbau des Wissens mit seiner breiten Grundlage
nicht im gehörigen Verhältniß. Ich kann mit aller De
muth, die das Gefühl der eigenen Unbedeutenheit eingibt,
den hohen Gaben und immensen Wissensschätzen der großen
Gelehrten Deutschlands meine Ehrfurcht zollen; aber die
Mehrzahl ihrer Landsleute ist nicht gut unterrichtet, ja
über Dinge, die wenigstens jeder Gebildete kennen sollte,
häufig in grober Unwissenheit befangen. So habe ich
einen Lehrer seinen Schülern das rothe Meer als „Europa
von Asien trennend" beschreiben hören, so einen namhaf
ten Buchhändler die Bemerkung machen hören, die Dampf
maschine sey von den Amerikanern erfunden worden; und
der würdige Professor— der, beiläufig bemerkt, sich ein
bildete, er spreche das Englische besser aus als ich—hatte
die Idee, „die Engländer würden nie seekrank." Wahr
scheinlich meinte er, „Englands festgeankert Eiland" schwinge
an seinen Hasenankern, und seine Eingeborenen gewöhnten
sich an die Bewegung. Ueber Lokalmaterien, die nicht mit ihren
eigenen Beschäftigungen zusammenhängen, herrscht der näm
liche Mangel an Verständniß, nicht aus fehlender Fähigkeit,
sondern aus geistiger Unthätigkeit; und auf sechs Fragen,
die man an einen Deutschen richtet, wird man in der
Siegel bei fünf die Antwort erhalten: „Das weiß ich nicht."
Das kommt, ich sage das noch einmal, wohl nicht von der
fehlenden, sondern von der nicht angestrengten oder
geübten Fähigkeit. Für Eines aber scheint ihnen die Natur
den nöthigen Sinn versagt zu haben: den Sinn für die
Zahlen, die Rechnungswissenschaft. Hätte Liston, oder sein
ihn noch überragender Nebenbuhler, der Italiener Vestris,
die Konfusheit in ihrem vollendetsten Ausdruck studiren
wollen, ein schöneres Muster, als einen deutschen Hand-
werksmann, wenn er seine Rechnung bezahlt bekommt,
hätten sie nicht auftreiben können. Sein verwirrtes „vier- j
unbzwanzig, vierundzwanzig, achtundvierzig, zweimal acht-
undvierzig," und das Labyrinth, das darauf folgt und in
das er weder hinein, noch wieder heraus kommen zu können
scheint, würden recht ergötzlich seyn, wenn sie nicht oft
doch auch gar zu ärgerlich wären. Das Gelb in diesen
Ländern ist allerdings eine schwierige Sache, allein mit
einigem Rechnungstalent müßte gerade diese Schwierigkeit
in ihrer Ueberwindung zur Geschicklichkeit führen. Ihre
ganze Kunst scheint dagegen darin zu bestehen, ein miß-
rathenes Rathen ja nie gegen sich selbst operiren zu lassen.
Es mag ihnen schwer ankommen, herauszubringen, daß
zweimal vierundzwanzig achtundvierzig machen, aber für
fünfzig nehmen sie's nie an. Bei alledem sind's Leute,
die man gern haben muß; sie sind gutmüthig, und das
wohl, nach Oberst Sibthorpe's Theorie, „weil fie, wie
Christenmenschen, Ochsenfleisch essen und Bier trinken."
Zu den unterrichtetflen Deutschen, die mich in Karls
ruhe mit ihrer Bekanntschaft erfreuten, gehörte Herr
von —, mit dem ich viele angenehme Stunden verlebte.
Er war unserer Sprache vollkommen Meister und kannte ihre
neuere Literatur in einem Umfang, wie nicht viele meiner
Landsleute. Auf einem unserer Spaziergänge machte er
mich auf ein dem Dichter Hebel im „Schloßgarten" er
richtetes Denkmal aufmerksam, und in dem, was ich von
Hebel hier nun sage, spreche ich oft mit den eigenen
Worten meines Begleiters.
Hebel war der deutsche Burns. In seinen Stoffen
sowohl wie nach seinem ursprünglichen Stande gleicht er
dem großen Schatten. Jene behandeln das Lieben und Ge
haben, die Leiben und Freuden des ländlichen Lebens, ge
schildert von Einem, der sie mit eigenen Augen gesehen,
aus eigenem Herzen gefühlt hat. Seine Ballade „der Bett
ler" scheint wie aus Burns': »When wild war’s deadly
blast is blawn« (des Krieges wilde Wuth war aus) ge
nommen; doch tragen beide die eigenthümliche Färbung
der Gefühle der Länder, in welchen sie entstanden sind. —
Hebel und Burns wurden fast um die gleiche Zeit „auf
dem Lande" geboren, Hebel in einer abgelegenen Ecke
eines der idyllischsten Theile des badischen Oberlandes (im
Dörfchen Hausen); beide waren von niederer Herkunft
(Hebels Vater ein Weber); beide verlebten ihre Knaben
zeit in den Arbeiten und Beschäftigungen des Feldes. Hier
aber hört die Aehnlichkeit ihrer persönlichen Geschichte
auf. Hebel hatte das Glück, einige wohlwollende und
einsichtsvolle Männer zu finden, die dem armen, aber be
gabten Jüngling die Mittel zum Unterricht und zum Stu
dium der Theologie und Philologie auf einer Universität
gewährten. So gefördert, stieg er allmählig von der
Stelle eines Vikars und Lehrgehülfen in einer kleinen
Landstadt zu der eines Lehrers und Professors zu Karls
ruhe, und erreichte endlich die höchste Stellung, die ein
protestantischer Geistlicher in Deutschland erstreben kann —
den Rang und die Würde eines Prälaten der evangelischen
Kirche. Selbst da aber noch widmete er fortgesezt einen
Theil seiner Zeit der Ertheilung des Unterrichts in der
Rhetorik und in der griechischen und deutschen Literatur
am Lyceum zu Karlsruhe. Er war milden Sinnes und
ruhiger Gemüthsart, und so floß auch sein Leben hin,
das er, wie einem Hirtenbichter zukam, nicht in der Hof-
luft und im Resibenztreiben, sondern in den stillen Schat
ten und in den Balsamlüften des Gartens von Schwetzin
gen beschloß, wohin er sich in der Hoffnung auf Wieder
herstellung seiner angegriffenen Gesundheit einige Zeit vor
seinem Tode zurückgezogen hatte. Er war nie verheirather,
und scheint auch Burns' Gluth und Drang der Gefühle
nicht besessen zu haben.
Als Dichter schöpften beide ihre Begeisterung aus der
Natur; doch mit dem Unterschied, daß Burns sie in all
ihrer Einfachheit, Hebel durch den Schleier klassischer Er
innerungen ansah. Beide liebten und suchten sie, Burns
mit der Gluth leidenschaftlicher Bewunderung, Hebel als das
Objekt sittlicher Empfindungen, woraus eine Lehre sich