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bloß den Spitzen der Gesellschaft zu eigen war, son
dern tiefer und tiefer in die unteren und breiteren
Schichten der Bevölkerung eindrang, dieß jedoch auf
Kosten jenes duftigen, von der feinsten Geiftesblüthe
erfüllten Gesellschaftstons, durch den die vorhergehende
Generation sich auszeichnete.
Es ist einmal nicht anders in der Geschichte: der
wahre Fortschritt hängt immer und überall davon ab,
ob und in wie weit die Eichung. in die^Breite geht^
und gerade in diesem' Punkte^kann man das 'Verdienst
Frankreichs um Europa nicht hoch genug anschlagen.
Es eristirt nur eine einzige Macht, die frei macht, und
diese ist die Bildung, so daß es schon darum keine ge
schenkte, sondern nur eine erworbene, erkämpfte Frei
heit geben kann. Die Freiheit in diesem Sinn ist aber
unter allen Ums ../?n human, und es ließe sich leicht
nachweisen, daß tolerante Humanität das hervorragende
Kennzeichen de^> französischen Nationalcharakters bildet.
Man hat sich gerne über Louis Philipp und seinen
Regenschirm — denselben „baumwollenen," den Hasselt
seinem Frankfurter Krämer unter den Arm gibt —
lustig gemacht, und gleichwohl hat dieses spießbürgerliche
Königthum für die freie Humanität und die humane
Freiheit mehr gethan, als früher in Jahrhunderten un
ter eroberungslustigen Regenten geschehen ist.
Nach demselben Maßstab wird man auch die im
gesellschaftlichen Leben damals eingetretene Veränderung
zu beurtheilen haben. Der Adel, der hohe wenigstens,
war freiwillig von der Bühne abgetreten; die bürger
lichen Minister kamen an die Tagesordnung und mit
ihnen die durchaus politische Färbung der geselligen
Unterhaltung. Freilich stand in den ersten Jahren nach
der Julius-Revolution genug auf dem Spiel, daß es
wohl der Mühe lohnte, auch außerhalb der Kammern
die politischen Ereignisse und deren Eventualitäten zum
Gegenstand der Unterhaltung zu machen. Der Fehler
war nur der, daß die parlamentarische Debatte sich
vorzugsweise um hohe Phrasen drehte und die plau
dernde Einbildungskraft beschäftigte, anstatt den wirk
lichen Interessen des Landes gehörig Rechnung zu tra
gen. Es wurde auf der Tribune fortwährend gestritten
und nur selten verhandelt, und dieser Hahnenkampf, dem
in der Regel persönliche Interessen als Rückhalt dien
ten, pflanzte sich von den Beamtensalons in die gemein
bürgerlichen fort. Wo man hinkam in gesellschaftlichen
Kreisen, da bildeten die-jji der Deputirtenkaminer gehal
tenen Reden den Knotenpunkt 'der ^lnN-rhaltung; alles
Uebrige wurde ru^r Nebenher.besprochen und die politi
schen Zeitungen erlangten unter solchen Uwstäjchen eine.
Bedeutung, die ihnen ohne Beeinträchtigung der höhe
ren und allgemeineren Culturinteressen nicht zukommen
kann. Es war von jeher ein Unglück und wird immer
ein Unglück seyn, wenn die Politik als Selbstzweck und
nicht blos als Mittel zur Förderung der auf nationa
lem Grunde ruhenden Humanität angesehen wird. Als
unterhaltendes Spiel betrachtet ist der Constitutionalis-
mus für die Völker dasselbe was ein schneidendes Mes
ser als Spielzeug in den Händen eines Kindes.
Es läßt sich nicht verkennen, daß wie unter der
Restgurat-ion die vornehme Gesellschaft das Echo war
für dw Parlamentsdebatten, so nunmehr die kleinen
Salons fast ohne Ausnahme davon wiederhallten. Und
allerdings lag, wie ein Jeder bezeugen wird, der zwi
schen 1830 und 1848 längere Zeit in Paris gelebt
hat, ein ganz eigenthümlicher, fast unwiderstehlicher
Reiz' darin, die Verhandlungen der Deputirtenkammer
auf j'edem Schritte und in allen Wendungen zu ver
folget!. Man kam zu ihrer Besprechung, ohne eigent
lich zu wissen wie: die Anforderung, das Bedürfniß
dazu lag, so zu sagen, in der Pariser Luft, und mit
dem besten Willen konnte sich kaum Jemand, der einige
Quckd,ratfuß Raum hatte, um Freunden einen Stuhl
und ein Glas Zuckerwasser anzubieten, dieser politischen
NothNjlkudigkeit entziehen. Und sonderbar, je allgemei
ner und unerquicklicher über derlei Dinge gesprochen
wurde, für desto wichtigere und einflußreichere Persön
lichkeiten hielten sich die sehr oft in sehr bescheidenen
Verhältnissen lebenden Gastgeber. Bei- dem ganz un-
verhältnißmäßigen Einfluß, welchen die Frau in Frank
reich genießt, war nur sie es, die der unmuthigen
Plaude^i über gleichgültige Dinge an der Feuerseite
des eheHerrlichen Kaminö noch einen Platz offen erhielt;
was in^dxm Salons der Reichen über Literatur- und
Kunsterzeugnisse gesprochen wurde, geschah mehr des
Anstands und der gesellschaftlichen Form wegen, als
auS instÄem Drange.
Dix'neue Wendung des Gcsellschaftslebens war
von denr nicht geringen Uebelstand begleitet, daß die
Literatur jene monströse Wanderung nach den Feuil
letons dp Zeitungen antrat, weil der zu politischer
Bedcutuzch^und einer gewissen gesellschaftlichen Stellung
gelangte Kleinbürger, ganz und gar nicht gemeint, sich
eine Bibliothek anzuschaffen, nur den „Constitutionnel"
die „Presse", das „Siecle" zu halten brauchte, um über
E.-.Sue,/Ä. Dumas, und wie die andern Berühmt
heiten d/s Feuilleton-Romans hießen, Bescheid zu wis
sen. Dem -/Journal des Debats gereicht es zu größter
-Ehre, daß sich in diesen literarischen Schwindel nicht
> hinziehen ließ und dadurch die Ehre der journalisti-
schan^ahne, zum Theil auch die guten Traditionen des
.'T' gesellschaftlichen Tones rettete.
v | Der Feuilleton-Roman ist der Massenroman,