Full text: Zeitungsausschnitte über Veröffentlichungen von Herman Grimm: Über Erzählungen und Gedichte

-^T220 56 
bloß den Spitzen der Gesellschaft zu eigen war, son 
dern tiefer und tiefer in die unteren und breiteren 
Schichten der Bevölkerung eindrang, dieß jedoch auf 
Kosten jenes duftigen, von der feinsten Geiftesblüthe 
erfüllten Gesellschaftstons, durch den die vorhergehende 
Generation sich auszeichnete. 
Es ist einmal nicht anders in der Geschichte: der 
wahre Fortschritt hängt immer und überall davon ab, 
ob und in wie weit die Eichung. in die^Breite geht^ 
und gerade in diesem' Punkte^kann man das 'Verdienst 
Frankreichs um Europa nicht hoch genug anschlagen. 
Es eristirt nur eine einzige Macht, die frei macht, und 
diese ist die Bildung, so daß es schon darum keine ge 
schenkte, sondern nur eine erworbene, erkämpfte Frei 
heit geben kann. Die Freiheit in diesem Sinn ist aber 
unter allen Ums ../?n human, und es ließe sich leicht 
nachweisen, daß tolerante Humanität das hervorragende 
Kennzeichen de^> französischen Nationalcharakters bildet. 
Man hat sich gerne über Louis Philipp und seinen 
Regenschirm — denselben „baumwollenen," den Hasselt 
seinem Frankfurter Krämer unter den Arm gibt — 
lustig gemacht, und gleichwohl hat dieses spießbürgerliche 
Königthum für die freie Humanität und die humane 
Freiheit mehr gethan, als früher in Jahrhunderten un 
ter eroberungslustigen Regenten geschehen ist. 
Nach demselben Maßstab wird man auch die im 
gesellschaftlichen Leben damals eingetretene Veränderung 
zu beurtheilen haben. Der Adel, der hohe wenigstens, 
war freiwillig von der Bühne abgetreten; die bürger 
lichen Minister kamen an die Tagesordnung und mit 
ihnen die durchaus politische Färbung der geselligen 
Unterhaltung. Freilich stand in den ersten Jahren nach 
der Julius-Revolution genug auf dem Spiel, daß es 
wohl der Mühe lohnte, auch außerhalb der Kammern 
die politischen Ereignisse und deren Eventualitäten zum 
Gegenstand der Unterhaltung zu machen. Der Fehler 
war nur der, daß die parlamentarische Debatte sich 
vorzugsweise um hohe Phrasen drehte und die plau 
dernde Einbildungskraft beschäftigte, anstatt den wirk 
lichen Interessen des Landes gehörig Rechnung zu tra 
gen. Es wurde auf der Tribune fortwährend gestritten 
und nur selten verhandelt, und dieser Hahnenkampf, dem 
in der Regel persönliche Interessen als Rückhalt dien 
ten, pflanzte sich von den Beamtensalons in die gemein 
bürgerlichen fort. Wo man hinkam in gesellschaftlichen 
Kreisen, da bildeten die-jji der Deputirtenkaminer gehal 
tenen Reden den Knotenpunkt 'der ^lnN-rhaltung; alles 
Uebrige wurde ru^r Nebenher.besprochen und die politi 
schen Zeitungen erlangten unter solchen Uwstäjchen eine. 
Bedeutung, die ihnen ohne Beeinträchtigung der höhe 
ren und allgemeineren Culturinteressen nicht zukommen 
kann. Es war von jeher ein Unglück und wird immer 
ein Unglück seyn, wenn die Politik als Selbstzweck und 
nicht blos als Mittel zur Förderung der auf nationa 
lem Grunde ruhenden Humanität angesehen wird. Als 
unterhaltendes Spiel betrachtet ist der Constitutionalis- 
mus für die Völker dasselbe was ein schneidendes Mes 
ser als Spielzeug in den Händen eines Kindes. 
Es läßt sich nicht verkennen, daß wie unter der 
Restgurat-ion die vornehme Gesellschaft das Echo war 
für dw Parlamentsdebatten, so nunmehr die kleinen 
Salons fast ohne Ausnahme davon wiederhallten. Und 
allerdings lag, wie ein Jeder bezeugen wird, der zwi 
schen 1830 und 1848 längere Zeit in Paris gelebt 
hat, ein ganz eigenthümlicher, fast unwiderstehlicher 
Reiz' darin, die Verhandlungen der Deputirtenkammer 
auf j'edem Schritte und in allen Wendungen zu ver 
folget!. Man kam zu ihrer Besprechung, ohne eigent 
lich zu wissen wie: die Anforderung, das Bedürfniß 
dazu lag, so zu sagen, in der Pariser Luft, und mit 
dem besten Willen konnte sich kaum Jemand, der einige 
Quckd,ratfuß Raum hatte, um Freunden einen Stuhl 
und ein Glas Zuckerwasser anzubieten, dieser politischen 
NothNjlkudigkeit entziehen. Und sonderbar, je allgemei 
ner und unerquicklicher über derlei Dinge gesprochen 
wurde, für desto wichtigere und einflußreichere Persön 
lichkeiten hielten sich die sehr oft in sehr bescheidenen 
Verhältnissen lebenden Gastgeber. Bei- dem ganz un- 
verhältnißmäßigen Einfluß, welchen die Frau in Frank 
reich genießt, war nur sie es, die der unmuthigen 
Plaude^i über gleichgültige Dinge an der Feuerseite 
des eheHerrlichen Kaminö noch einen Platz offen erhielt; 
was in^dxm Salons der Reichen über Literatur- und 
Kunsterzeugnisse gesprochen wurde, geschah mehr des 
Anstands und der gesellschaftlichen Form wegen, als 
auS instÄem Drange. 
Dix'neue Wendung des Gcsellschaftslebens war 
von denr nicht geringen Uebelstand begleitet, daß die 
Literatur jene monströse Wanderung nach den Feuil 
letons dp Zeitungen antrat, weil der zu politischer 
Bedcutuzch^und einer gewissen gesellschaftlichen Stellung 
gelangte Kleinbürger, ganz und gar nicht gemeint, sich 
eine Bibliothek anzuschaffen, nur den „Constitutionnel" 
die „Presse", das „Siecle" zu halten brauchte, um über 
E.-.Sue,/Ä. Dumas, und wie die andern Berühmt 
heiten d/s Feuilleton-Romans hießen, Bescheid zu wis 
sen. Dem -/Journal des Debats gereicht es zu größter 
-Ehre, daß sich in diesen literarischen Schwindel nicht 
> hinziehen ließ und dadurch die Ehre der journalisti- 
schan^ahne, zum Theil auch die guten Traditionen des 
.'T' gesellschaftlichen Tones rettete. 
v | Der Feuilleton-Roman ist der Massenroman,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.