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© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 26
Er kam um acht Uhr. Der Mann empfing ihn
zuerst allein, er saß rauchend behaglich in seiner So-
phaecke, stand auf, bewillkommte ihn mit Herzlichkeit,
und ein kleines blondes Mädchen, das strickend hinter
dem Tische saß, legte aus einen stummen Wink seinen
Strumpf hin, bemächtigte sich des Hutes und brachte
dann eine gestopfte Pfeife herbei. Albert dankte freund
lich, er rauchte nicht. Nach einer Stunde ging die
Stubenthür auf, es war der Sohn, der mit seiner
Frau aus dem Theater kam. Sie erschrack ein wenig
über den unerwarteten Gast, für den nichts in Bereit
schaft war, Albert bewunderte ihre Schönheit und die
stille Grazie, mit der sie allerlei besorgte, ohne die
Aufmerksamkeit für ihn aus den Augen zu verlieren.
Nun deckte die Magd den Tisch, man sezte sich, es
kam noch ein kleineres Kind zur Sprache, aber nicht
zum Vorschein, zu dem die Frau nur dann und wann
fortging. Albert aß und trank, fand alles köstlich, er
zählte, sprudelte über von Heiterkeit und verbreitete ein
solches Wohlseyn in der Familie, daß sie zulezt dasaßen,
als kennten sie sich von den ältesten Zeiten her, und
endlich auf eine Weise von ihm Abschied nahmen, die
ihm an's Herz ging und ihn traurig machte.
Welch ein Gefühl, als er dann in sein prächtig
kaltes Wirthshauszimmer eintrat und mit seinen beiden
Koffern wieder allein war! Und so sollte eS ihm von
nun an immer ergehen, ein ewiges Anlangen und sich
Losreißen ohne Zweck und Ziel. Er nahm die Zeitung;
ein Mann zeigte an, daß er sein Geschäft mit Haus
und Garten verkaufen wollte. „Ich wäre im Stande,"
dachte er, „und kaufte es, würde Bürger und Drechs
lermeister hier in der Stadt, hätte mein Gelinde und
heirathete die älteste Tochter aus dem nächsten Nach-
barhause."
Therese und Emma fielen ihm ein. Er holte ein
Daguerretyp hervor, auf dem sie beide dargestellt waren,
Emma noch ganz als das Kind, Therese aber kaum
anders als in den lezten Tagen. Sie sah ihn so klar
und unschuldig an, wie sie es vor so kurzer Frist noch
gethan. „Sie ist doch schön," sagte er sich. „Ich ging
so neben ihr her und bemerkte es kaum." Und wäh-
Berlitt, Anfang April 1855.
rend er sich das sagte, stieg eine Idee in ihm auf, die
ihn bald ganz einnahm. „Wäre es eine Möglichkeit?"
dachte er. „Mich, der so abgewiesen ward? der ihr
so wenig bieten kann? Vielleicht!" — Wir folgen sei
nen Gedanken nicht, aber wir sehen ihn nach einer
Stunde heftigen Bedenkens einen Brief schreiben, einen
zweiten, einen dritten, und diesen noch zu schleuniger
Besorgung früh am nächsten Tage dem Kellner über
geben, der auf sein Klingeln in verschlafener Höflich
keit herbeistürzt. Wir sehen ihn einen Tag warten,
ihn dann, noch ohne Antwort zu haben, dem Briefe
nachreisen, und endlich sehen wir ihn wieder in The
resens kleine Stube eintreten, wo er sie wieder allein
trifft.
Die Tante, der dieser Besuch sehr auffällig ge
wesen war, da ja Albert so weit hatte fortreisen wol
len, und nun so bald wieder erschien, und so sehr
lange bei ihrer Nichte blieb, nahm sich endlich ein
Herz und trat ein. Therese saß dießmal am Ofen,
die Hände im Schooß gefaltet, Albert an ihrem
Schreibtische und so sehr in seine Arbeit vertieft, daß
er nichts bemerkte und ruhig fortschrieb. So traf eö
sich denn, daß er, ohne aufzusehen, zu Therese sagte:
„Ich schreibe gleich, daß sich deine Tante sehr gefreut
hat, es bleibt ihr ja gar nichts anderes übrig, und
sie ist eine so vortreffliche Frau —" Hier brach The
rese in lautes Lachen aus, und er sah auf.
„Bleiben Sie ruhig sitzen, lieber Albert," rief die
Tante und ihr ganzes Gesicht stimmte in Theresens
Heiterkeit ein, „und da doch von mir die Rede ist, so
bemerken Sie nur gleich, daß die Tante sich allerdings
sehr freute, aber die beiden Leute nicht belästigte, son
dern nur gratulirte und sie allein ließ." Damit ging
sie fort. Albert aber stand doch von seinem Briefe
auf und sezte sich neben Therese, und die Zeit ver
ging, als hätte sie nie so große Eile gehabt. Und
wenn ja noch der lezte Funke des alten Schimmers
an ihm gehangen hatte, er war nun ausgelöscht; wie
er da neben ihr saß, war er nichts als ein guter
Mensch, der ein Herz hat und ein's gefunden, das
ihn liebte.