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in ihm war doch ein Fleck, der ruhig und still war, wie
ein dunkler, unbewegter See mitten in einem sturmer
füllten Wald. Da tönte es leise: du bist im Unrecht,
du bist im Unrecht! Und manchmal ging ihm das Bild
des Krämers durch den Kopf, und die Scene des
Glücks, dessen Zeuge er gewesen, folgte ihm nach.
„Und wenn es ein Unrecht ist," rief er aus und
sprang vom Sessel auf, „er soll nicht sagen, daß er
Ile mir entrissen habe; mein Wort ist gegeben, ich will
es einlösen!" Unmöglich schien es ihm, sich von ihr
zu trennen. Sie war nicht mehr das, was sie noch vor
kurzem gewesen, nicht mehr bloß ein reizendes Ding,
nicht mehr bloß ein Edelstein, ein Besitz, der dem das
Leben verschönt, der ihn sein eigen nennt, aber der es
nicht beraubt, wenn er verloren wird, den man ver
mißt, aber den man nicht entbehrt. Gerade ihre er
wachende Stärke, ihre Kühnheit verliehen ihr Reize,
die sie früher nie besessen; er wollte sie überwinden,
lieben sollte sie ihn, daran er früher nie gedacht.
So mit sich selbst in stürmischem Verkehr hörte
er nicht, daß an seine Thür geklopft wurde. Endlich
ward er darauf aufmerksam und ging, sie zu öffnen.
Heinrich trat ein. Er sagte nichts, wie das oft seine
Art war, sondern trat an den Tisch, aus dem allerlei
ausgegrabene und aufgelesene Antiquitäten lagen, die
er in die Hand nahm, besah und wieder hinlegte. Da
bei blickte er nur manchmal flüchtig auf Albert, welcher
mit gesenkten Augen hastig auf und ab ging und sich
zulezt aus einen Stuhl sezte, dessen Rücken er von der
Lampe abwandte, die dreiarmig und von blankem
Messing ihre elenden Flammen leuchten ließ.
„Sprachst du nicht mit Emma allein, ehe du hin
aus gingst?" fragte endlich ihr Bruder. Der Ton seiner
Stimme klang gleichgültig; er war ein zarter, stiller
Mensch, und wenn ihn etwas tief bewegte, so mußte
er gemessen reden, denn er würde keine Worte gefun
den haben, wenn er sich dem Gefühl ganz hingegeben
hätte. Weil er deßhalb da, wo es sich um gleichgül
tigere Dinge handelte, wohl in Hitze gerathen und sich
lebhaft ausdrücken konnte, sobald jedoch sein eigenes
Herz hineingezogen, angegriffen oder gar verlezt ward,
kühl und ablehnend erschien, so nannten ihn die Leute,
die ihn nicht kannten, kalt und egoistisch, die Leute
nämlich, denen eine tüchtige Aufregung zu den ange
nehmen Vorfällen des Lebens gehört, und welche die
nicht begreifen, die daS Bedeutende, Unerwartete stumm
betrachtend im Anfange hinnehmen, sich langsam seiner
Gewalt fügend, sich aber dann auch nicht gleich nach
der ersten Ueberraschung von ihm abwenden und eö
vergessen.
Albert antwortete eben so ruhig, als Heinrich ihn
gefragt hatte: „Ja, ich sprach mit ihr. Warum?"
„Als ich nach einem Weilchen in das Zimmer
trat, das leer zu seyn schien, und durchgehen wollte,
stieß ich mit dem Fuße an etwas, das aus dem Bo
den lag —"
Plötzlich stand Albert vor ihm, todtenbleich seinen
Arm fassend, rief er auS: „Um Gotteswillen, was ist
mit ihr?" und zitterte, daß seine Bewegung den an
dern durchbebte.
„Sie war ohnmächtig," fuhr Heinrich fort; „ich
glaubte zuerst etwas Schlimmeres. Ich machte natür
lich keinen Lärm, hob sie auf, trug sie in's Zimmer
daneben auf ihr Bett und rieb ihr die Schläfen mit
Eau de Cologne. Sie kam bald wieder zu sich; jezt
schläft sie." — Albert hatte ihn athemlos angehört.
„Gott sey gedankt! Gott sey gedankt!" ries er aus.
„Als sie dalag," erzählte Heinrich weiter, „hielt
sie ein Papier in der Hand, einen Brief. Sie fragte
augenblicklich darnach, als sie die Augen aufschlug, ich
gab ihn ihr wieder." — „Aber du hast ihn gelesen,
Heinrich?" — „Ja, allerdings; während ich neben ihr
saß, nachdem sie eingeschlafen war, zog ich ihn leise
unter dem Kopfkissen hervor, laS ihn und steckte ihn
wieder dahin. Es war nicht Recht im Grunde, aber
es ist am Ende doch verzeihlich, und leichtsinnige Neu
gier war es nicht."
Albert schwieg. Nach einer Weile fragte er gleich
gültig: „Kennst du ihn?" — „Sehr gut. Ich wollte
ihn längst bei uns einführen, aber er verbat sich das
und verlangte, ich möchte seiner überhaupt nicht bei
uns erwähnen. Er sagte mir keinen Grund, und ich
ahnte diesen nicht im mindesten." — „Was h^st du
von ihm, ehrlich gesagt?" — „Ehrlich gesagt, Albert,
da du es verlangst, er ist der erste junge Mensch, der
mir von Herzen lieb ist. So urtheilte ich am ersten
Tage über ihn, als wir uns sahen. Ich spreche das
aus, weil du es wissen wolltest." — Albert fragte
nicht weiter. Heinrich stand noch eine Zeit lang schwei
gend am Tische und sah alle die Dinge, die da lagen,
noch einmal genau an, als erwartete er eine Fort
setzung des Gesprächs. Dann wandte er sich zur Thüre,
sagte hinausgehend einfach gute Nacht, und Albert
blieb allein.
Um Mitternacht saß er noch da, wie Heinrich ihn
verlassen hatte. Die Lampe ward immer kleiner und
verlöschte endlich. Als er einmal aus tiefen Gedanken
ausblickend bemerkte, daß es dunkel sey, zündete er ein
Licht an, sah auf die Uhr und verließ sein Zimmer. Er
ging hinunter, schlich durch die finstern Stuben bis zu
Emmas Thür und hörte sie athmen. Dann zurückgehend
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loekte ihn die offenstehende Thüre des Balkons, hinauszu
treten. Die Nacht war warm und ohne Sterne. Erst
allmählig unterschied sein Auge die Linie, welche die
undurchdringlich finstere Masse der Häuser vom matt
dämmernden Himmel trennte. Unter ihm die Orangen
rührten ihre starren Blätter nicht, und kein anderer
Ton störte die Mitternacht, als das verworrene Geplät
scher einer Fontäne, die er nicht sah. Manchmal schallte
eö aus der Ferne wie Gesang, der näher zu kommen
schien, aber dann verging, statt deutlicher zu werden. —
Er lehnte sich auf die Balustrade und sah vor sich hin.
Alle bösen Gedanken lösten sich unmerklich von ihm ab,
und eine Ruhe durchzog ihn, der sich seine ermüdete
Seele dankbar hingab. Noch einmal horchte er an
Emmas Thür, hörte ihren ruhigen Schlaf und suchte
sein Zimmer wieder aus.
Es war gegen zehn Uhr am andern Morgen, als
er herunter kam. Die Sonne schien auf die ausge
spannten Rouleaur vor den offenen Fenstern. Emmas
Vater saß am Tische und las mit sorgloser Miene die
deutschen Zeitungen. Sie selbst ging umher und sah
ein wenig blaß aus. Albert sagte ihr guten Morgen,
ohne ihr die Hand zu reichen, aber nicht unfreundlich,
fragte, wie sie geschlafen, und daraus, ob sie Lust hätte,
mit ihm einen kleinen Spaziergang zu machen. Sie
sah ihn erst groß an, sagte dann kurz ja, und ging,
um ihre Sachen zu holen. Er sah ihr nach, ihre
schlanke Gestalt schritt so sicher dahin, nicht mehr wie
ein Nymphchen, das durch die Baumstämme schlüpft
und nur die Grashalme mit den Fußspitzen streift, son
dern jezt in festem Gange, und jede Falte ihres Kleides
war ein Theil ihrer Schönheit.
Er führte sie an seinem Arme das Forum hin
unter. Die gefangenen Könige fielen ihm ein, als er
durch die Triumphbögen schritt, es kam ihm eine Ah
nung von dem, was sie empfanden, als sie gefesselt
dem Wagen dessen folgten, der sie besiegt. Kalt sah
er die Tempel und Bildsäulen am Wege stehen. Was
waren sie ihm, die er mit Enthusiasmus zuerst, mit
Ehrfurcht später betrachtet hatte! Steine waren es, die
nichts von ihm wußten; mochten rohe Menschen an
ihnen hämmern und kratzen, kein Gedanke wäre ihm
aufgestiegen, es ihnen zu wehren.
Nun traten sie in die weitausgedehnten Ringmauern,
in deren Mitte einst auf Leben und Tod gekämpft wor
den war. Jahrhunderte hatten den Platz von Mord
gereinigt und seine Pracht herabgerissen. Von den ho
hen Pfeilern, die sich düster gewaltig über einander
aufthürmten, wallte der stille Epheu hernieder, zarte
Farrenkräuter sproßten aus ihren Ritzen, Rosen und Feigen
wurzelten auf ihren Vorsprüngen, friedliches Dunkel lag
in den Vertiefungen, nur die Vögel flatterten da um
her, und die Sonne streckte ihre Hand weit aus und
milde über die Trümmer.
Die beiden gingen da einsam, es war niemand zu
erblicken. Nein, stand da nicht in der Ferne eine Ge
stalt und kam auf sie zu? Albert schrack zusammen und
es überlief ihn. „Emma," sagte er, „willst du dich
ein wenig hier auf den Stein setzen? Ich sehe dort
jemand, mit dem ich ein paar Worte sprechen möchte."
Sie ließ seinen Arm los und sezte sich nieder,
ohne nur aufzusehen. Anemonen sproßten üppig auf
dem Platze und drängten ihr ihre weißen Blüthen ent
gegen. Indem er sie ansah, zögerte er einen Augen
blick, dann aber faßte er sich und ging Emil entgegen,
den er wohl erkannt hatte. Aber als er ihm bis auf
fünfzig Schritt nahe gekommen war, konnte er nicht
weiter und lehnte sich an's Gemäuer, um ihn zu er
warten. Er stand da und bedachte, waö er sagen
wollte; er war klar und ruhig, aber es machte ihn
matt, so geduldig zu warten.
Der junge Mensch, dem die Sonne in die Augen
schien, erkannte ihn erst, als er dicht an ihm vorüber
gehen wollte. Er hielt seine Schritte an, trat ihm
gegenüber und zeigte ihm die Blässe, die aus seiner
Stirn lag.
„Ach, Sie waren hier?" rief er aus, „Sie? Und
doch hatte ich es nicht erwartet!" Albert wollte das
Wort nehmen. „Oh, sagen Sie nichts!" rief er,
„nichts! Wir werden uns nicht streiten hier! Sparen
Sie der Mühe. Ich lasse mich durch nichts reizen.
Aber hören Sie das: nicht wahr, triumphirend erwar
teten Sie mich hier? Sie hatten ein Recht dazu. Aber
das weiß ich, habe ich unbesonnen und unbefugt
mich an Sie herangedrängt, so habe ich doch nicht ein
unschuldiges Kind, das nicht wußte, was das Leben
war, gezwungen meine Sklavin zu seyn — nicht meine
Geliebte! Nichts von Liebe, es wäre ein Hohn! Sie
hätten anders an mich geschrieben, wenn Sie sie lieb
ten, oder wenn Emma Sie liebte! Und als das arme
i Kind unbesonnen sich verpflichtete, und dann erst, als
es gefesselt war, fühlte, daß es eine Freiheit gäbe,
! deren es nie genoß, da habe ich es nicht festgehalten
mit Gewalt, wie Sie, als wäre das eine Pflicht, was
ehedem ein Betrug war! So nenne ich es. Fordern
Sie mich. Ich will da stehen und ihrer Pistole in
den Lauf sehen und lachen, ja, und denken, daß mich
der Wahnsinn verleitete, Sie aber das kalte Blut,
j die kühle Berechnung, Sie das Verbrechen. Hier
i steh' ich!"
Er schwieg und Albert war keines Wortes fähig,
i „Lesen Sie das," fuhr Emil fort und holte ein Zettelchen