Full text: Zeitungsausschnitte über Veröffentlichungen von Herman Grimm: Über Erzählungen und Gedichte

© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 26 
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gelesen, aber ich trage ihn mit mir; keiner soll ihn 
berühren als ich, kein anderer! Ich habe niemals 
gelogen, frage Therese und Papa, ob ich das je that. 
Unter mein Kopfkissen habe ich ihn Nachts gelegt, und 
in der Tasche trug ich ihn die Tage mit mir, manch 
mal faßte ich ihn heimlich an, und ich war glücklich, 
als ich ihn berührte." Ihre Augen glanzten von ver 
haltenen Thränen. 
„Emma!" schrie ihr Verlobter auf und faßte sie 
am Arm, „das ist Wahnsinn, was du da redest!" — 
Sie riß sich mit einer Bewegung los, sezte sich nieder, 
schlug die Füße über einander, kreuzte die Arme und 
sah ihn an. 
„Mach mir doch Vorwürfe," begann sie wieder, 
„sag' mir doch, ich sey dir treulos gewesen. Ich habe 
den Brief nicht gelesen, aber geküßt habe ich ihn: habe 
ich dir je versprochen, daö nicht zu thun?" — Die 
Glut ihrer Stimme erstickte in ihren Thränen, sie warf 
sich wieder hin und drehte daö Antlitz der Wand zu. 
Albert stand neben ihr. Einmal wollte er reden, 
doch er schnitt sich das Wort selbst ab. Er wollte ge 
hen, aber er blieb stehen. Er wollte einen Entschluß 
fassen, aber wozu denn sich entschließen? Sollte er 
etwas thun, etwas sagen, etwas schreiben? — Er 
stand da und hörte sie schluchzen. 
Emil war in Rom. Albert hatte ihn an jenem 
Abend in der Soiree wohl erkannt; es war ihm lieb 
gewesen, daß er ihm auöwich und daß Emma so bald 
mit Heinrich fortging. Er glaubte damals nicht, daß 
sie sich gesehen hätten. Er wußte, daß ihn Emma 
eben nicht belogen hatte. Sollte er darum den jungen 
Menschen fordern, erschießen, oder ihn nur aufsuchen, 
mit ihm reden? Was hatte dieser so furchtbares ver 
brochen? Es konnte ja in dem Briefe möglicherweise 
nichts als die Erklärung enthalten seyn, daß er sich 
zurückziehen werde. O, sich zurückziehen, wenn er sie 
jezt hier gesehen und gehört hätte? Wenn er hier 
stände, und nun an ihm die Reihe gewesen wäre zu 
fragen: was würden Sie thun an meiner Stelle? 
Da lag sie, das lieblichste Wild, das je gejagt 
wurde; eine Gazelle, die ermattet in der Wüste auf den 
heißen Sand sinkt; ein Schmetterling, dem die Regen 
tropfen schwer auf die Flügel fallen, der taumelnd ver 
geblich ein Obdach sucht; ein armes Kind, das zum 
erstenmal seines Herzens inne wird und so große Lasten 
darauf empfindet, als hätte es einen kostbaren Schatz 
entdeckt, aber ein Felsblock läge darauf, den es nicht 
bewegen könnte. ES sezt sich daneben hin und weint; 
da kommen im Mährchen wohl mitleidige Geister auS 
den Felsspalten, stoßen und rollen die Last zur Seite, 
daß cs mit vollen Händen zugreifen und in sein Schürz- 
chen sammeln darf, was seine Augen begehren. Aber 
die Zeiten sind vorüber, wo Thränen Steine erweichten. 
Wieder wollte er sie anreden; aber waö sagen, 
was fragen, was verlangen? Und so ließ er sie allein, 
ging aus dem Hause, durchstreifte nachdenklich die 
Straßen der Stadt und hatte endlich, als er interesse 
los die Häuser ansah, eine kleine Thüre vor sich, die 
ihn frappirte. Er wußte nicht warum, aber es war 
ihm da etwas begegnet. Der Abend dämmerte schon. 
Auf dem Steine vor der Thüre saß eine junge Frau; 
auch diese fiel ihm auf. Sie hatte ein Kind im Schooße 
liegen, ein anderes krabbelte neben ihr auf dem Wege 
umher. 
Albert blieb stehen und betrachtete sie. ES war 
nichts Auffallendes daran; Künstler pflegen das oft 
und überall zu thun, die Frau kümmerte das auch nicht 
viel, sie war wohl schon öfter so beschaut worden, wenn 
sie dasaß. Aber verstohlen sah sie den Fremden doch 
an, und als sich so ihre Augen trafen, da fiel ihm 
plötzlich alles wieder ein, und auch ihr schien eö so zu 
ergehen, denn ihre Züge bekamen einen Ausdruck zwei 
felhaften Lächelns, das die Lust, ihn anzureden, ver 
rieth, und die Scheu, es zu wagen. 
Vor drei Jahren war er eines Abends hier vor 
über gegangen (er wußte eS nun wieder, und um so 
lebhafter, als er sich inzwischen nie daran erinnert hatte), 
in derselben Hausthüre hatte ein zorniger Mann ge 
standen; diese Frau, die damals noch ein Mädchen 
war, hielt er an der Hand und wollte sie in's Haus 
zurückreißen, aber ein junger schöner Bursche hielt sie 
an der andern, und es sprühte eine Fluth von Worten 
zwischen den Dreien, hier drohend, dort bittend, und 
Verzweiflung zwischendurch, daß Albert dicht herantrat 
und hart fragte, worüber sie sich stritten. Die Sache 
war sehr einfach; der Alte wollte seine Tochter mit 
dem Kaufmanne verheirathen, welcher an der Ecke sei 
nen Kram hatte, und wies den Jüngling ab, der zwar 
kein Gut uft Geld besaß, aber der schönste junge Rö 
mer war, den Albert je gesehen hatte. Kaum trat er 
dazwischen, als sich augenblicklich jeder einzelne an ihn 
wandte, und schließlich kam nun auch der Kaufmann 
aus dem Hause und schrie sein Theil mit ein. Albert 
war in einer Gesellschaft gewesen, wo man ihn gegen 
seinen Willen zu hohem Spiel verführt, und wo er 
beide Taschen voll Goldstücke gewonnen hatte. Er wandte 
sich an den Vater des Mädchens. Es ist so leicht; 
moralisch und gut zu seyn und für daö Rechte in Eifer 
zu gerathen, wenn man ohne eigenes Interesse beiden: 
Handel ist: er warf dem Manne seine Schlechtigkeit 
vor, und dem Kaufmanne, daß er ein so schönes blü 
hendes Mädchen einem solchen Geliebten entreißen wolle, 
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und zum Schluß hieß er den unglücklichen Liebhaber 
den Hut in beiden Händen herhalten und schüttete ihm 
das Gold hinein, das er aus der Tasche holte. Nie 
hatte er einen solchen Nollenwechsel erlebt; das Mäd 
chen fiel ihm zu Füßen und küßte ihm die Hände, der 
Alte stand wie geblendet, und der junge Mensch starr 
mit seinem Reichthum vor sich. Der Krämer aber 
schielte ihm höhnisch von der Seite über die Schulter 
und schlich sich fort. 
Dieseö Mädchen war die Frau. Der Vater war 
gestorben; sie lebte mit ihrem Manne im Häuschen, sie 
rief ihn heraus und eine Fülle von Segenswünschen 
wurde Albert zu Theil. Es waren feurige Kohlen auf 
sein Haupt; erst allmählig fühlte er, daß sie brannten, 
seine Stellung Emil und Emma gegenüber trat ihm 
vor die Seele, unwillkürlich ertheilte er sich die Rolle 
des Krämers, der davon schlich, mochte er sie nun 
verdienen oder nicht. Es übermannte ihn, er sezte das 
Kind, das er auf den Arm genommen, fast böse nie 
der, riß sich von den Leuten los und suchte eine andere 
Gasse auf. 
Und nun kam der Rückschlag; er schwor sich, kei 
nen Finger breit zu weichen, Emil, der sich zwischen 
ihn und seine Verlobte drängte, zurückzustoßen, sey es 
wie es sey, und seine Entschlüsse lagerten sich wie eine 
finstere Wolke auf seine Stirn. Es war nicht zum 
erstenmal in seinem Leben, daß er durchgesezt hatte, 
was sich gegen seinen Willen zu wenden Miene machte.' 
Emma schien ihn erwartet zu haben, als er end^ 
lich kam. Sie ging auf ihn zu und zog ihn in eine 
Stube, in der sie allein waren. Ihre Züge waren 
traurig und ihre Stimme sanft. „Hier ist der Brief 
Albert," sagte sie. „ich hätte ihn dir gleich geben sollen " 
Er dankte nicht, er wies ihn auch nicht zurück, öffnete 
ihn und las. 
„Gnädigstes Fräulein, 
„daß ich Ihnen nachreise, rechnen Sie mir nicht als 
Sünde an; ich liebe Sie so sehr und- glaubte Sie wä 
ren unglücklich. Ich beobachtete Sie überall von ferne 
und in der Nähe, ohne daß Sie davon wußten. Aber 
Sie waren heiter und strahlend wie am ersten'Tage 
Ich sah Sie öfter mit Ihrem Verlobten, es schien mir 
kein Zug in Ihrem Wesen, der mir ein Recht gäbe 
mich ferner auch nur mit einem Gedanken zwischen Sie 
und ihn zu stellen. Verzeihen Sie mir, wenn ich mir 
die lezte Genugthuung nicht versage, Ihnen zu schrei 
ben, daß ich jezt bereue, was ich gethan habe. Ich 
wünsche Glück und Segen auf Ihr Leben. Daß ich 
Sie ewig lieben werde, ist ein Geständniß, das Sie 
nicht mehr belästigen wird, und mich macht es so glück 
lich, nur daß Sie es wissen. Begegnen werden wir 
uns nicht mehr. llnd auch dieß noch hören Sie. Mein 
Herz ist so besorgt, daß eö mir zuflüstert: sollte ich 
dennoch nicht von Ihnen vergessen seyn, ja sollte all 
ihr Wesen nur ein Schein seyn, den ich falsch deutete, 
sollten Sie den Wunsch haben mich zu sehen — ich werde 
it’beti Morgen von heute ab im Coliscum seyn und Sie 
erwarten. Belächeln Sie dieß als eine Schwäche, so 
haben Sie ein Recht dazu, und ich schließe mit der 
herzlichen Bitte, sie mir zu vergeben. Ihr Verlobter, 
der diesen Brief dann lesen wird, wird so großmüthig 
seyn als Sie selber." 
Emil von M." 
„Emma, hier ist der Brief, ich habe gesehen was 
darin steht. Lieö ihn und laß uns morgen darüber 
reden." — Mit diesen Worten, die er so kalt redete, 
als legte er sie kahl gedruckt vor sie hin, wollte er aus 
dem Zimmer gehen. Aber im Umwenden sah er sie 
noch einmal an; ihre Augen trafen sich wieder. Nichts 
von Furchtsamkeit, von Bewegung lag in Emmas 
Blicken, sondern eine Ruhe, eine abweisende Kälte, eine 
Kühnheit, die ihn in seiner unklaren Hitze auf's äußerste 
steigerten. „Hör' es jezt!" rief er aus, „es steht in 
deiner Hand, mich von dir zu stoßen, aber erblicke ich 
ihn jemals da, wo ich gestanden habe, neben dir, so 
gibt etwas anderes die Entscheidung als dein Willen!" 
„Du willst ihn herausfordern?" fragte sie kalt. 
„Ja, das will ich!" Er hätte die Worte schreien 
können, aber die Stimme versagte ihm, er stieß sie 
tonlos beinahe heraus, und war verschwunden. Er stürzte 
wie sinnlos auf sein Zimmer, verriegelte die Thür, riß 
die Fenster auf, stand da und preßte die Hände gegen 
die Schläfen, gegen die daö wilde Blut anschlug. 
Darauf sezte er sich an seinen Schreibtisch und tauchte 
die Feder ein. „Mein Herr," schrieb er, „Sie haben 
eö für nöthig gesunden, noch einmal an Fräulein 
von —, meine Braut, Mittheilungen über die Ge 
fühle zu machen, welche Sie ein Recht zu besitzen 
glauben für sie zu hegen. Ich setze Sie hiemit in 
Kenntniß, daß wenn Sie noch einmal den leisesten 
Versuch machen, diese Verhältnisse zu berühren, ich 
dieß als eine direkte Aufforderung an mich ansehen 
werde, unserem Verkehr auf eine Weise ein Ende zu 
machen, die unter uns von nun an die einzige seyn 
wird." 
Er siegelte das Blatt, ohne es nur durchzulesen, 
rief seinem Bedienten und übergab es ihm zu augen 
blicklicher Besorgung. Und alles das ward mit einer 
Hast gethan, die mit seiner gewohnten kühlbedächtigen 
Art auf das heftigste contrastirte. Seit Jahren war 
ihm daö Blut so nicht durch die Adern geflogen, nie 
mals war ihm das Herz so schwer gewesen, denn tief
	        
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