Full text: Zeitungsausschnitte über Veröffentlichungen von Herman Grimm: Über Erzählungen und Gedichte

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Morgenblatt 
Ur. 22 
für 
gebildete Leser. 
27. Mai 1855. 
— 1 wot nol by wliat power, 
(B«t by some power it is,) my love lo Hermia, 
Melted as doth Ihe snow, seems lo me now 
As Ihe remembrance os an idle gawd, 
Wbich in my childhood I did dote upon; 
And all Ihe faith and virlue os my hearl 
Is only Helen?. 
Shakespeare. 
Vas Kind, 
eine Erzählung von Hermann Grimm. 
(Schluß.) 
Emmas schweigendes Ausweichen hatte Albert auf 
gereizt; wäre nicht Heinrich gewesen, welcher ihn die 
Sache still abzuwarten bat, er hätte den Schleier durch 
rissen und wäre durchgedrungen; denn alles Zweifeln 
und Schwanken war ihm seiner Natur nach unerträg 
lich. So hatte ihn der Zwang, den er sich anthun 
mußte, gereizt, ohne daß er es wußte, und als er jezt 
den Brief sah, quoll ihm der Aerger dunkel zum Her 
zen; so that er, was er sonst nicht gethan Aben würde, 
er zog leise das Papier aus Emmas Hand. Er mußte 
wissen was darin stand, sie war seine Braut, er hatte 
ein Recht, die Geheimnisse aufzuklären, die ihr Herz 
von dem seinigen getrennt hielten. 
Aber der Brief war noch zwischen ihren Fingern, 
als sie bemerkte, was geschah. Mit einem Griff er 
faßte sie ihn wieder, sprang auf und stand vor Albert; 
wahrhaftig sie war gewachsen, größer als sonst! 
„Was willst du?" rief sie, und eine dunkle Rothe 
überflog sie. Der Schlaf hatte ihr das Haar in Un 
ordnung gebracht, eö hing ihr auf der einen Seite lang 
auf die Schulter herab. Ihre Augen schienen dunkler, 
ihre Lippen fester, aber schön war sie wie niemals. 
Morgenblatt. 1855. Nr. 22 
„Du hast mir den Brief nehmen wollen?" fragte sie 
drohend. — „Ja, das wollte ich," entgegnete er in 
milderem Tone als gewöhnlich. „ES schien mir dieß 
eine unschuldige Art, zu erfahren, was dich krank 
machte." — „Ich war nicht krank," rief sie; „du hast 
es mich schon einmal gefragt und ich sagte nicht die 
Unwahrheit, als ich nein sagte!" — Was war das 
für ein Ton, in dem sie redete? — „Aber der Brief 
ist Schuld, daß du so blaß umhergingst!" erwiederte er 
heftiger; „und du hattest mir versprochen, keine Briefe 
zu lesen, ohne daß ich es wüßte, Briefe — du weißt 
von wem, Emma! Und daher kommt der!" 
„Ja, daher kommt der! und ich habe ihn nicht 
gelesen! Denkst du, ich wäre so schwach, daß ich hinter 
deinem Rücken bräche, was ich dir offen versprach?" — 
Sie warf den Brief auf den Tisch. Er war versiegelt 
und unerbrochen. Albert griff nach ihm, aber sie hielt 
ihn schon wieder in ihren Händen. 
„Nein, du rührst ihn nicht an!" — „Und er 
kommt wirklich von ihm!" — „Ja, und ich bin ihm 
begegnet. Wir haben nichts Unrechtes gesprochen, aber 
den Brief hat er mir gegeben und ich habe ihn nicht 
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