sches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 26
aus. „Ich muß es wissen, ob mein Gefühl wirklich
die Wahrheit ist. Er soll mir so nicht fortnehmen,
waS mein ist, ich reise ihnen nach! Ich muß die
Wahrheit wissen!"
„Lieber Freund," sagte Therese und behielt seine
Hand, die er ihr reichte, als wolle er Abschied neh
men, um auf der Stelle abzureisen, „und wenn das
Kind Albert nicht liebte, wäre es nicht vielleicht doch
besser so, wie es ist? Bedenken Sie das. ^ch habe
es auch bedacht."
„O, ich weiß, daß das nicht Ihr tiefstes Gefühl
ist, das sie so sprechen lehrt," rief der junge Mensch.
„Es ist etwas Künstliches in Ihnen, das so redet.
Nicht wahr? Sie möchten, daß kein Unheil entstände?
Es soll kein's geschehen! Sie möchten, daß Ihre Schwe
ster glücklich wird; sie soll es werden! Sie meinen,
Emma wäre so jung, so biegsam, ein Mann wie ihr
Verlobter würde sie am sichersten durch das Leben füh
ren. O, ich bitte Sie, wenn Sie jemals geliebt ha
ben, gibt es eine Sicherheit, die größer wäre, als das
Glück derer, die sich lieben und sich gefunden haben?
Ist nicht alles andere leere Berechnung, Schein, Jam
mer, zerbrechend, wenn das Schicksal wirklich kommt,
statt nur spielend heranzutreten? Sehen Sie mich an,
es ist keine Lüge; Sie glauben cs, wie ich es glaube!"
Das Feuer war ihm in die Wangen gestiegen und
glühte in seinen Worten. Therese wußte nur zu gut,
was er meinte; sie schwieg und er gefiel ihr unaus
sprechlich, er war ihr wie ein Bruder, und indem sie
seine Hand hielt, schien durch seine Fingerspitzen ein
Gefühl der Verwandtschaft in sie einzuströmen. Er ließ
sie nun los, schritt den Saal hinunter und kam zurück,
sah einige Bilder an und sezte sich dann neben sie auf
den Divan, auf den sie sich gesezt hatte. Sic sprachen
nicht weiter. Nach weniger Zeit nahm er seinen Hut
und sagte: „Morgen reise ich. Ich kann mir bis da
hin meinen Paß und das Uebrige besorgen." Sie
fand es ganz natürlich. — „Aber Sie kommen noch
einmal, ehe Sie fortgehen?" sagte sie an der Thüre,
bis zu der sie ihn begleitete. — „Ja," rief er, und es
beglückte ihn, daß sie so stillschweigend seine Plane
billigte, „ich komme noch ein-, zweimal, so oft ich kann.
Lassen Sie mich abweisen, wenn Sie mich nicht brau
chen können, aber ich komme wieder." Damit trennten
sie sich.
Therese fing an ihr Zimmerchen in Ordnung zu
bringen, das sie sich im Hause zu ihrem besondern
Versteck ausgesucht hatte. Sie stellte sich alle Möbeln
nach ihrem Geschmack um, jedes Stück bekam eine an
dere Stelle, und als alles zurecht gerückt war, sah es
aus, als hätte es nie anders stehen können. Sie packte
ihre Schreibmappe aus und pflückte die welken Blätter
aus den Blumentöpfen, die sie an's Fenster hatte tra
gen lassen. Mitten aus dieser Arbeit lief sie an's
Clavier, schlug es auf und fing an zu singen. Sie
hatte mehr eine klare, weiche, als eine mächtige Stimme,
und eine Nachtigall, die es gehört, wäre gern näher
gekommen, um zu hören, statt aufgescheucht davon zu
fliegen.
So traf sie auch am andern Tag Emil, den sie
ohne weiteres allein in ihrem Zimmer annahm, weil
sie sich mit einem Schlage selbstständig fühlte in den
neuen Verhältnissen. Auch stand er ihr ja näher als
andere. Er lehnte sich über'ö Clavier und sprach, wäh
rend sie allmählig die Hände in den Schooß legte und
ihm Antwort gab. Sein ganzes Wesen athmete Frische
und eö lag in ihm noch die jugendliche Erwartung der
Zukunft, die vielen so früh verloren geht. Er erzählte,
wie er Emma zuerst gesehen, wie die Umgebung um
sie immer mehr nebelhaft verschwommen wäre und ihr
Bild allein klar geblieben. Er hatte alles bemerkt,
was Schönes an ihr war, er sprach voll Enthusiasmus
von ihr wie von einem schönen Bilde, und stockte dann
wieder mitten in der Rede, weil er zu deutlich fühlte,
daß pe mehr als ein Bild sey. Therese vergaß die
Verlobung, die Reise, die Befürchtungen, sie betrach
tete Emil, als wäre er in Wahrheit längst mit Emma
vermählt, alö wäre das abgethan und hätte sich diese
Unruhe schon in die schönste Gewohnheit aufgelöst.
Und doch, welche Luftschlösser, die sie beide erbauten!
Erft als er gegangen war, fühlte sie es doppelt deut
lich: die stolzen Gebäude lösten sich in Gewölle auf,
immer grauer und grauer, bis ein trüber Himmel ein
zig zurück blieb, unter dem sie traurig allein stand.
Unterdessen eilten die Reisenden ihrem Ziele ent
gegen. Es waren die ersten Tage des Novembers, das
Wetter köstlich, die Eisenbahnen so pünktlich, die Reise
ging von statten, wie eine aufgezogene Uhr abläuft. Die
beiden Herren befanden sich vortrefflich in Emmas Ge
sellschaft, die sie auf daö reizendste unterhielt, ohne
sie einen Augenblick zu geniren. Das Kind hatte an
allem Interesse, erröthete, froh verwirrt, wenn ihm
Fremde vorgestellt wurden, wie einer großen Dame,
sprach aber doch sehr gewandt und klug mit ihnen und
erzählte Albert mit Wonne, was es beobachtete, war
es nun ein Gespann prächtiger Pferde, oder ein selt
samer Thurm, oder eine Katze auf der Gasthaustreppe;
jeder Regen, jeder Sonnenschein entzückte es, und nur
wenn es Abends allein an Therese dachte, sielen ihm
die Thränen auf das Kopfkissen, bis es darüber ein
schlief.
Aus dem Markusplatze von Venedig fingen die
Lichter an aufzublühen, und die Sterne über ihnen,
die den reinen Himmel durchbrachen. Gelblich in's
Grüne, Rothe, Violette schimmernd, aber feurig rein
in einander übergehend, war seine Farbe, und sie spie
gelte sich auf den Wogen deö Meeres, die schaumlos
anschwellend in langen Reihen dahin zogen, zu den
Marmorstufen der Paläste, die sie anplätscherten, zu
den schwarzen Masten der stillen Schiffe, an deren
Schärfe sie sich theilten, und fern in die Weite zum
Horizonte, der schwarz war und sich in Duft verlor.
Die drei fuhren in eitler Gondel mitten durch die
schweigende Pracht des Abends, weit genug von der
Stadt, um ihrem Treiben entronnen zu seyn, und doch
nahe genug, um die Musik aus dem Platze wie ein
liebliches Gesumme zu vernehmen, mit dem die Winde
spielten. Die Gondel flog so sicher dahin, das Kind
war so glücklich. Seine Hand ruhte in Alberts Arm,
in der andern hielt es einen Veilchenstrauß, der ihm
am Morgen von einem blumenverkaufenden Mädchen
zugeworfen ward und dessen Blüthen größer waren, als
sie bei uns wachsen. Seine Seele war frei und glatt
wie der Himmel, in dem sein Auge versank, nur keine
Sterne darin, doch auch keine Wolken.
Viele Gondeln fuhren umher, manche ganz nah
vorüber, rechts oder links ausweichend, wie Schwalben,
die über die Fläche huschen, spitz, schlank und flüchtig.
Plötzlich fühlte Albert, daß die Hand des Mädchens
zitterte und sich seinem Arm entzog. Eine Gondel streifte
an der ihren vorüber, ein paar dunkle Gestalten saßen !
darin; es war nicht möglich auch nur eine Spur ihrer
Gesichter zu erkennen. „Waö ist dir, Emma?" fragte 1
er. Sie schwieg. „Du zittertst?" — „Ja, ich zitterte."
Man merkte es ihrer Sprache an. — „Gib mir deine
Hand wieder!"
Doch sie schlug die Arme untereinander, plötzlich
aber warf sie die Veilchen in's Meer und senkte den
Kopf in ihre Hände. — „Emma," fragte er wieder, „was !
ist dir?" — „Nichts," antwortete sie und er fragte sie
nicht weiter.
Sie hatte dagesessen und die Welt schwamm vor
ihren Augen sehnsuchtslos und still vorüber. Da kam
die Gondel, sie sah die eine der dunkeln Gestalten, auf
der Stelle erkannte sie sie, sie leuchtete, wie damals
Emil im Garten, als sie von ihm gegangen war. Und
als sie so rasch verschwand, da war eS ihr, als dränge
ein furchtbarer Schmerz in ihre Seele; sie hätte ihren
Vater, Albert, Therese, Alles hätte sie verlassen kön
nen, nur um der dunkeln Gondel nachzuschweben, ihn !
zu sehen und in's Meer zu sinken. Und der Schmerz
zitterte ihr in allen Adern, die Thränen stiegen ihr
unaufhaltsam aus, und als Albert redete, war ihr seine
Stimme so unerträglich, daß sie hätte in's Meer stürzen
mögen, nur um sie nicht mehr zu vernehmen. Und
einer andern Stimme lauschend, von der sie nie etwas
gewußt, die aus ihr selbst zu ihr sprach, hörte sie von
einer Zukunft, an die sie nie gedacht, von einer Ver
gangenheit, die ihr niemals klar gewesen. Zum ersten
mal dämmerte es in ihr auf, als könnte sie einen
Willen für sich haben und die andern zwingen, ihn
als das anzuerkennen, dem sie allein gehorchen wollte.
So dachte das Kind. Sie legten am User an.
Albert bot ihr die Hand; sie war schon ohne seine
Hülfe auf die Stufen der steinernen Treppe gesprungen.
Er bot ihr den Arm, sie nahm ihn, aber sie dachte:
„Du thust es, weil du mußt; wäre es möglich, daß du
einst nicht mehr müßtest?"
Unter solchen Gedanken schlief sie ein. Aber selt
sam: was ihr in der Gondel klar und leuchtend ge
wesen war, verschwamm mehr und mehr am andern
Morgen, und als sie Abends wieder an ihres Verlobten
Seite über den lichterhellen Platz durch das Gedränge
der fremden Menschen ging, fühlte sie sich geschüzt
neben ihm und erinnerte sich dunkel der seltsamen Ge
danken der vergangenen Nacht, der Gedanken, die sie
einst gehabt. Gestern nannte sie einst. Sie freute
sich aus Rom und aus ihren Bruder.
Albert hatte zuerst sonderbare Vermuthungen über
den Vorfall, ihn dann aber so verstanden, als sehnte
sich Emma nach Therese, von der sie oft sprach. Im
ersten Momente berührte ihn das energische „Nichts"
sehr überraschend, hernach glaubte er, daß er sich ge
täuscht hätte. Sie war am folgenden Tage so ganz
wieder wie sonst gewesen; mochte da das Eine Wort
unerklärlich bleiben, er vergaß es.
In Florenz wirkte die Nähe Roms schon allzu
magisch; man kürzte die Zeit ab, und als noch die
schönen Tage sich ungetrübt und warm folgten, war
man schon in Rom angelangt und in der angenehmsten
Wohnung heimisch geworden. Alberts Genuß sing hier
eigentlich erst an. Er kannte jedes Haus, jeden Stein
so zu sagen. Emmas Bruder, Heinrich, der sich ihm
auf das herzlichste anschloß, zeigte ihm waS neu war
und der lezten Zeit angehörte. Emma ging auf in
der neuen Welt, die sich ihr erschloß, sie war uner
müdlich und, ohne es zu ahnen, bald der Mittelpunkt
eines Kreises der liebenswürdigsten Leute, alle ohne
Sorgen, nur bemüht, auch das geringste Schöne von
Grund aus zu genießen, denn die meisten erholten sich
von langjährigen Mühen, aus denen sie endlich ge
flüchtet waren. Dieß die älteren, die jüngeren aber
sammelten begierig für ein langes Leben Kenntnisse und
beglückende Erinnerung. Allen aber war Emma lieb,