Full text: Zeitungsausschnitte über Veröffentlichungen von Herman Grimm: Über Erzählungen und Gedichte

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„So, das hat er dir gesagt, und das hast du ihr 
erzählt, Therese?" 
„Ja, ich hielt es für meine Pflicht; denn wir 
nennen sie freilich das Kind, aber sie darf hier keines 
mehr seyn — selbst wenn sie ein's wäre," sezte sie 
hinzu. 
„Wie verstehst du das, liebe Therese: selbst wenn 
sie noch eines wäre? Wenn sie eines ist, so bleibt sie 
eines, es mag nun das Gegentheil noch so nothwendig, 
und vorgefallen seyn, was da will." 
„Dann aber," antwortete das Mädchen und er- 
röthete leise, „könnten Dinge vorfallen, die sie aufhören 
ließen ein Kind zu seyn, und es ist die Frage, ob 
sie dann die Verpflichtung hätte, zu halten, was sie 
als Kind versprach, oder ob sie als Kind überhaupt 
etwas versprechen konnte." 
„Was sind das für Philosophien?" rief Albert und 
ward unruhig. „Hat dir Emma Eröffnungen gemacht, 
zu denen dieß die Einleitung seyn soll?" 
„Nein." 
„Glaubst du aber, daß sie etwas verschwiegen 
haben könnte, wozu dieß die Einleitung wäre — 
möglicherweise?" 
„Das weiß ich nicht." 
„Daö heißt, du willst es nicht aussprechen." 
„Lieber Albert, du wirst ernsthaft und ohne allen 
Grund. Sey gewiß, sähe ich in dem, was geschieht, 
ein Unrecht, so würde ich nicht darüber schweigen; 
dazu habe ich das Kind zu lieb. Was Emma denkt, 
weiß ich wirklich nicht, sie sagte kein Wort, als ich 
ihr erzählte, was ich dir gesagt habe. Auch stehst du 
ihr darin jezt ja viel näher als ich, und wenn du es 
für Recht hältst, wirst du sie fragen. Und nun bin 
ich zu Ende." 
Er hielt ihre^Hand in der seinigen, wie man ei 
nen Bekannten beim Gespräche am Rocke festhält. Sie 
zog sie loS und ging fort. „Man könnte eS drucken 
lassen, was sie sagt," dachte ihr Albert nach, „und 
doch keineswegs pedantisch. Ich muß auf den Grund 
kommen," dachte er weiter, und als eS Abend war, 
hatte er einen langen Spaziergang mit dem Kinde ge 
macht. Sie war vertrauungsvoll gewesen, hatte alleö 
eingesehen, was er ihr klar und verständlich auseinan 
der sezte; eingesehen, daß sie Emil nicht liebe, daß 
dergleichen oft bei jungen Männern vorkäme — man 
dürfe sie freilich bemitleiden, aber es ginge vorüber — 
eingesehen, daß sie ihm nicht wieder begegnen dürfe, 
daß er sich bald beruhigen und seiner Zeit mit einer 
andern Frau glücklich werden würde. Gewiß, das war 
Alberts Meinung, und war sie es vorher nicht ganz 
gewesen, so war sie es doch nun fest und unumstößlich, 
nachdem Emma ihn so treu angehört und so unschuldig 
geglaubt hatte. Er war zu stolz, um zu lügen, und 
das Kind? Mit acht Jahren war eö den Sperlingen 
mit einer Hand voll Salz nachgelaufen, weil man ihm 
gesagt, eS könne sie fangen, wenn sie sich's auf den 
Schwanz streuen ließen; warum sollte es mit siebzehn 
nicht glauben, daß ein junger Mann, der so gut und 
so schön war, nicht einst glücklich werden sollte? Und 
da Albert eö so sicher aussprach! Wie sollte es denken, 
sein eigenes unschuldiges Persönchen sey irgend jemand 
zu seinem Glücke nothwendig, es könnte jemand sterben 
vor Sehnsucht nach ihm, oder nur Thränen vergießen? 
Wunderte es sich doch immer wieder heimlich über Al 
berts Herablassung und konnte nicht recht begreifen, 
warum er alle Tage so lange Gespräche mit ihm führte. 
Man war in der Stadl; die Koffer standen ge 
packt; am nächsten Morgen sollte die Reise angetreten 
werden. Man logirte bei einer reichen alten Tante, 
einer Schwester des Vaters. Am lezten Abend erklärte 
Therese, sie werde bei ihr zurückbleiben. Eine Revolte 
entstand. Des Vaters Gegengründe besiegte sie, Alberts 
Bitten wich sie aus, Emmas Thränen überwand sie, 
freilich mit schwerem Herzen, und am andern Tage, 
als der Zug abbrauste, sah sie ihm einige Minuten 
nach und rollte dann neben ihrer Tante allein vom 
Bahnhöfe in die Stadt zurück, saß Abends hinter der 
großen silbernen Theemaschine und sprach mit all den 
alten und jungen Herrn, welche der geistreichen alten 
Frau allabendlich die Cour zu machen pflegten, ,o be 
haglich und lebhaft, daß ein jeder von ihnen, wenn er 
sie daö nächstemal nicht wieder gefunden hätte, der 
Meinung gewesen wäre, eö sey alles anders geworden 
und fehle etwas Langgewohntes, Anmuthigeö und Un 
entbehrliches im Hause. 
Als Emil an jenem Abende von seinem Streifzuge 
zurückkehrte, war eö tiefe Nacht. Er hatte Umwege 
gemacht, er war noch einmal in den Garten gedrungen 
und hatte den Fleck aufgesucht, wo Emma gestanden, 
sich da auf den Boden gesezt und denken wollen. Er 
wollte fort, es zog ihn wieder zurück; oft meinte er, 
sie riefe seinen Namen, er stand dann und lauschte, 
aber eS war der Wind, der durch die Gebüsche zur 
Seite des Weges fuhr, die aufrauschten und dann 
wieder schwiegen, wie geheimnißvolle Wesen, die wohl 
sprechen könnten, wenn sie wollten, aber sie wollten 
nicht; und die Wolken gaben ihm keinen Trost, die 
vor den Sternen vorüberglitten, wie trostlose Gedanken, 
formlos, trübe, verschwommen, aber drückend und ge 
waltig. 
Er kam zu Hause an. Das große Gebäude stand 
noch leer und uneingerichtet da; eö hatte vor ihm 
niemand da gewohnt, und er sich absichtlich dieses etwas 
vernachlässigte Gut ausgewählt, um Arbeit vor sich zu 
haben. In seinem Zimmer lagen die Sachen noch wirr 
durcheinander. Sein Bediente erwartete ihn; er schickte 
ihn zu Bett und dachte selbst nicht an schlafen. Er 
fing an Bücher zu durchblättern, hielt hier und dort 
mit den Augen ein Wort fest, das ihn leckte, und ließ 
es wieder los. Wie kahl, wie jammervoll grausam stan 
den die Buchstaben da auf den Blättern! und alle die 
schönen Worte waren wie leere Flaschen, oder wie un 
auflöslich fest verpfropfte, kein Tröpfchen Trost aus ihnen 
zu gewinnen. 
Emma liebte ihn nicht. Er hatte keinen Grund, 
an Alberts Wahrhaftigkeit zu zweifeln, war sie doch 
vor seinen Augen von ihm fortgegangen, und er sah 
nicht, daß er sie zwang; es war Wahnsinn, an sie zu 
denken. 
Am andern Morgen schien die Sonne hell. Er 
ging durch den Garten, wo schon die braunen Blätter 
in den Wegen lagen, während die grünen noch an den 
Zweigen hielten. Die Bäume standen so ruhig da, 
keiner wich und wankte von seinem Platze, keine Sehn 
sucht, die sie fortzog, und weit umher das flache Land, 
hier schattig, dort hell; es lag so todt da, er meinte 
ein Erdbeben müßte aufbrechen und alles durcheinan 
der werfen. 
Seine Geschäfte unterbrachen diese öden Gedanken, 
aber sie verscheuchten sie nicht. ES drängte ihn fort. 
Nicht die Verzweiflung, daß alles verloren sey, sondern 
die Hoffnung, daß er dennoch siegen werde, ließ ihn 
nicht zu Athem kommen. Drei Tage hielt er den 
Kampf aus, am vierten ritt er hinüber, er mußte 
Emma noch einmal sehen und sprechen. Dießmal kam 
er direkt vor daö Haus; aber die Laden des untern 
Geschosses waren dicht verschlossen, die Hühner irrten 
im Hofe umher, und eine Flucht Spatzen schnurrte 
vom Boden auf in die tief belaubten Kastanien. Das 
war alles, was er von Leben sah; es siel ihm nun 
ein, daß sie abgereist seyn müßten. Die Haushälterin 
sagte ihm, sie würden wohl noch in der Stadt seyn, 
wo sie sich eine Woche hätten aufhalten wollen. Wie 
schoß ihm das freudig durch das Herz! Sie waren noch 
zu.erreichen, er mußte sie sehen; es war kein Haltens 
mehr, halb im Trabe, halb galoppirend erreichte er 
sein Haus wieder, traf die nöthigen Anordnungen, 
packte seine Sachen ein und war so selig, als hätte 
ihm Emma geschrieben, daß er eilen solle, um sie noch 
zu sehen. 
Angekommen in der Stadt hatte er bald die Woh 
nung der Tante erfragt und gefunden. Es war noch 
am Vormittage, aber wäre er mitten in der Nacht ge 
kommen, seine Eile schien ihm ein Recht gegeben zu 
haben, ungesäumt anzuklopfen, alö hätte er die wich 
tigsten Nachrichten zu überbringen. Er fragte sogleich 
nach dem gnädigen Fräulein und wartete, denn man 
meldete ihn auf diese Frage ohne weiteres an; erwarb 
angenommen und die Thüre des Salons vor ihm ge 
öffnet. 
Als er eintrat, fand er Therese, welche den Kopf 
in die Hand geftüzt an einem Fenster saß. Sie erhob 
sich, er ging auf sie zu und verneigte sich. Es war 
der Tag nach der Abfahrt der Reisenden. Emil hatte 
fest erwartet, daß man ihn zu Emma führen würde; 
deßhalb blieb er plötzlich wie erschrocken vor Theresen 
stehen, und als ihn diese anredete, stotterte er: „Ich 
hatte gehofft Ihre Schwester zu finden." 
„Das thut mir leid," antwortete sie, matt lächelnd. 
„Sie sind gestern Morgen abgereist." 
„O, sie ist abgereist!" murmelte er nach und trat 
an das Fenster, von dem Therese einige Schritte zu 
rückgetreten war. Es gingen unten die Leute so eilig 
vorüber, drüben sah ein alter Herr heraus und sein 
Hund neben ihm, und unten saßen ein paar Kinder 
neben einander auf der Schwelle der Hausthür und 
fingen Steinchen. Er sah das eine Weile mechanisch 
an, ja es machte ihn lächeln, als zu den Kindern 
ein anderes kam, das ein Stück buntes Glas hatte, 
durch oas sie nun sämmtlich nach der Reihe die Welt 
ansahen und strahlend vor Vergnügen waren. 
„Gnädigstes Fräulein," begann er, sich zu Theresen 
wendend, der sein Stillschweigen nicht auffiel, „sie sind 
nach Italien gereiöt, nicht wahr?" 
„Ja," antwortete sie, und stellte sich neben ihn, 
die Stirn, wie er, den Fensterscheiben zugewandt; er 
war ihr angenehm in diesem Augenblicke, weil sie ihn 
so gut begriff. — „Soll ich Ihnen einmal etwas sagen," 
fuhr er fort, immer noch als führe er das Gespräch 
nur in Gedanken, wie man oft in sich Zwiegespräche 
führt und die andern antworten läßt, was man am 
treffendsten selber beantworten kann, „soll ich Ihnen 
etwas sagen, etwas das so wahr ist, als daß Sie und 
ich hier stehen?" — Als sie nicht antwortete, fuhr er 
fort: „Und dieß ist, daß Ihre Schwester Herrn von R — 
nicht liebt und er sie nicht. Ich will mein Leben lassen, 
wenn das nicht die Wahrheit ist!" 
Therese fand sich vollkommen in seine Weise. 
„Was hilft uns beiden das?" antwortete sie und sah 
gerade aus. 
„Also Sie wissen es auch? Sie wissen es?" rief 
er feurig. „Sie wissen es?" — Therese erwachte. 
„Wozu nüzt dieß Gespräch?" sagte sie. — „Ich werde 
Emma nicht loslassen, ich kann eö nicht!" rief Emil
	        
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