*B20 490
491 oss*'-
„So, das hat er dir gesagt, und das hast du ihr
erzählt, Therese?"
„Ja, ich hielt es für meine Pflicht; denn wir
nennen sie freilich das Kind, aber sie darf hier keines
mehr seyn — selbst wenn sie ein's wäre," sezte sie
hinzu.
„Wie verstehst du das, liebe Therese: selbst wenn
sie noch eines wäre? Wenn sie eines ist, so bleibt sie
eines, es mag nun das Gegentheil noch so nothwendig,
und vorgefallen seyn, was da will."
„Dann aber," antwortete das Mädchen und er-
röthete leise, „könnten Dinge vorfallen, die sie aufhören
ließen ein Kind zu seyn, und es ist die Frage, ob
sie dann die Verpflichtung hätte, zu halten, was sie
als Kind versprach, oder ob sie als Kind überhaupt
etwas versprechen konnte."
„Was sind das für Philosophien?" rief Albert und
ward unruhig. „Hat dir Emma Eröffnungen gemacht,
zu denen dieß die Einleitung seyn soll?"
„Nein."
„Glaubst du aber, daß sie etwas verschwiegen
haben könnte, wozu dieß die Einleitung wäre —
möglicherweise?"
„Das weiß ich nicht."
„Daö heißt, du willst es nicht aussprechen."
„Lieber Albert, du wirst ernsthaft und ohne allen
Grund. Sey gewiß, sähe ich in dem, was geschieht,
ein Unrecht, so würde ich nicht darüber schweigen;
dazu habe ich das Kind zu lieb. Was Emma denkt,
weiß ich wirklich nicht, sie sagte kein Wort, als ich
ihr erzählte, was ich dir gesagt habe. Auch stehst du
ihr darin jezt ja viel näher als ich, und wenn du es
für Recht hältst, wirst du sie fragen. Und nun bin
ich zu Ende."
Er hielt ihre^Hand in der seinigen, wie man ei
nen Bekannten beim Gespräche am Rocke festhält. Sie
zog sie loS und ging fort. „Man könnte eS drucken
lassen, was sie sagt," dachte ihr Albert nach, „und
doch keineswegs pedantisch. Ich muß auf den Grund
kommen," dachte er weiter, und als eS Abend war,
hatte er einen langen Spaziergang mit dem Kinde ge
macht. Sie war vertrauungsvoll gewesen, hatte alleö
eingesehen, was er ihr klar und verständlich auseinan
der sezte; eingesehen, daß sie Emil nicht liebe, daß
dergleichen oft bei jungen Männern vorkäme — man
dürfe sie freilich bemitleiden, aber es ginge vorüber —
eingesehen, daß sie ihm nicht wieder begegnen dürfe,
daß er sich bald beruhigen und seiner Zeit mit einer
andern Frau glücklich werden würde. Gewiß, das war
Alberts Meinung, und war sie es vorher nicht ganz
gewesen, so war sie es doch nun fest und unumstößlich,
nachdem Emma ihn so treu angehört und so unschuldig
geglaubt hatte. Er war zu stolz, um zu lügen, und
das Kind? Mit acht Jahren war eö den Sperlingen
mit einer Hand voll Salz nachgelaufen, weil man ihm
gesagt, eS könne sie fangen, wenn sie sich's auf den
Schwanz streuen ließen; warum sollte es mit siebzehn
nicht glauben, daß ein junger Mann, der so gut und
so schön war, nicht einst glücklich werden sollte? Und
da Albert eö so sicher aussprach! Wie sollte es denken,
sein eigenes unschuldiges Persönchen sey irgend jemand
zu seinem Glücke nothwendig, es könnte jemand sterben
vor Sehnsucht nach ihm, oder nur Thränen vergießen?
Wunderte es sich doch immer wieder heimlich über Al
berts Herablassung und konnte nicht recht begreifen,
warum er alle Tage so lange Gespräche mit ihm führte.
Man war in der Stadl; die Koffer standen ge
packt; am nächsten Morgen sollte die Reise angetreten
werden. Man logirte bei einer reichen alten Tante,
einer Schwester des Vaters. Am lezten Abend erklärte
Therese, sie werde bei ihr zurückbleiben. Eine Revolte
entstand. Des Vaters Gegengründe besiegte sie, Alberts
Bitten wich sie aus, Emmas Thränen überwand sie,
freilich mit schwerem Herzen, und am andern Tage,
als der Zug abbrauste, sah sie ihm einige Minuten
nach und rollte dann neben ihrer Tante allein vom
Bahnhöfe in die Stadt zurück, saß Abends hinter der
großen silbernen Theemaschine und sprach mit all den
alten und jungen Herrn, welche der geistreichen alten
Frau allabendlich die Cour zu machen pflegten, ,o be
haglich und lebhaft, daß ein jeder von ihnen, wenn er
sie daö nächstemal nicht wieder gefunden hätte, der
Meinung gewesen wäre, eö sey alles anders geworden
und fehle etwas Langgewohntes, Anmuthigeö und Un
entbehrliches im Hause.
Als Emil an jenem Abende von seinem Streifzuge
zurückkehrte, war eö tiefe Nacht. Er hatte Umwege
gemacht, er war noch einmal in den Garten gedrungen
und hatte den Fleck aufgesucht, wo Emma gestanden,
sich da auf den Boden gesezt und denken wollen. Er
wollte fort, es zog ihn wieder zurück; oft meinte er,
sie riefe seinen Namen, er stand dann und lauschte,
aber eS war der Wind, der durch die Gebüsche zur
Seite des Weges fuhr, die aufrauschten und dann
wieder schwiegen, wie geheimnißvolle Wesen, die wohl
sprechen könnten, wenn sie wollten, aber sie wollten
nicht; und die Wolken gaben ihm keinen Trost, die
vor den Sternen vorüberglitten, wie trostlose Gedanken,
formlos, trübe, verschwommen, aber drückend und ge
waltig.
Er kam zu Hause an. Das große Gebäude stand
noch leer und uneingerichtet da; eö hatte vor ihm
niemand da gewohnt, und er sich absichtlich dieses etwas
vernachlässigte Gut ausgewählt, um Arbeit vor sich zu
haben. In seinem Zimmer lagen die Sachen noch wirr
durcheinander. Sein Bediente erwartete ihn; er schickte
ihn zu Bett und dachte selbst nicht an schlafen. Er
fing an Bücher zu durchblättern, hielt hier und dort
mit den Augen ein Wort fest, das ihn leckte, und ließ
es wieder los. Wie kahl, wie jammervoll grausam stan
den die Buchstaben da auf den Blättern! und alle die
schönen Worte waren wie leere Flaschen, oder wie un
auflöslich fest verpfropfte, kein Tröpfchen Trost aus ihnen
zu gewinnen.
Emma liebte ihn nicht. Er hatte keinen Grund,
an Alberts Wahrhaftigkeit zu zweifeln, war sie doch
vor seinen Augen von ihm fortgegangen, und er sah
nicht, daß er sie zwang; es war Wahnsinn, an sie zu
denken.
Am andern Morgen schien die Sonne hell. Er
ging durch den Garten, wo schon die braunen Blätter
in den Wegen lagen, während die grünen noch an den
Zweigen hielten. Die Bäume standen so ruhig da,
keiner wich und wankte von seinem Platze, keine Sehn
sucht, die sie fortzog, und weit umher das flache Land,
hier schattig, dort hell; es lag so todt da, er meinte
ein Erdbeben müßte aufbrechen und alles durcheinan
der werfen.
Seine Geschäfte unterbrachen diese öden Gedanken,
aber sie verscheuchten sie nicht. ES drängte ihn fort.
Nicht die Verzweiflung, daß alles verloren sey, sondern
die Hoffnung, daß er dennoch siegen werde, ließ ihn
nicht zu Athem kommen. Drei Tage hielt er den
Kampf aus, am vierten ritt er hinüber, er mußte
Emma noch einmal sehen und sprechen. Dießmal kam
er direkt vor daö Haus; aber die Laden des untern
Geschosses waren dicht verschlossen, die Hühner irrten
im Hofe umher, und eine Flucht Spatzen schnurrte
vom Boden auf in die tief belaubten Kastanien. Das
war alles, was er von Leben sah; es siel ihm nun
ein, daß sie abgereist seyn müßten. Die Haushälterin
sagte ihm, sie würden wohl noch in der Stadt seyn,
wo sie sich eine Woche hätten aufhalten wollen. Wie
schoß ihm das freudig durch das Herz! Sie waren noch
zu.erreichen, er mußte sie sehen; es war kein Haltens
mehr, halb im Trabe, halb galoppirend erreichte er
sein Haus wieder, traf die nöthigen Anordnungen,
packte seine Sachen ein und war so selig, als hätte
ihm Emma geschrieben, daß er eilen solle, um sie noch
zu sehen.
Angekommen in der Stadt hatte er bald die Woh
nung der Tante erfragt und gefunden. Es war noch
am Vormittage, aber wäre er mitten in der Nacht ge
kommen, seine Eile schien ihm ein Recht gegeben zu
haben, ungesäumt anzuklopfen, alö hätte er die wich
tigsten Nachrichten zu überbringen. Er fragte sogleich
nach dem gnädigen Fräulein und wartete, denn man
meldete ihn auf diese Frage ohne weiteres an; erwarb
angenommen und die Thüre des Salons vor ihm ge
öffnet.
Als er eintrat, fand er Therese, welche den Kopf
in die Hand geftüzt an einem Fenster saß. Sie erhob
sich, er ging auf sie zu und verneigte sich. Es war
der Tag nach der Abfahrt der Reisenden. Emil hatte
fest erwartet, daß man ihn zu Emma führen würde;
deßhalb blieb er plötzlich wie erschrocken vor Theresen
stehen, und als ihn diese anredete, stotterte er: „Ich
hatte gehofft Ihre Schwester zu finden."
„Das thut mir leid," antwortete sie, matt lächelnd.
„Sie sind gestern Morgen abgereist."
„O, sie ist abgereist!" murmelte er nach und trat
an das Fenster, von dem Therese einige Schritte zu
rückgetreten war. Es gingen unten die Leute so eilig
vorüber, drüben sah ein alter Herr heraus und sein
Hund neben ihm, und unten saßen ein paar Kinder
neben einander auf der Schwelle der Hausthür und
fingen Steinchen. Er sah das eine Weile mechanisch
an, ja es machte ihn lächeln, als zu den Kindern
ein anderes kam, das ein Stück buntes Glas hatte,
durch oas sie nun sämmtlich nach der Reihe die Welt
ansahen und strahlend vor Vergnügen waren.
„Gnädigstes Fräulein," begann er, sich zu Theresen
wendend, der sein Stillschweigen nicht auffiel, „sie sind
nach Italien gereiöt, nicht wahr?"
„Ja," antwortete sie, und stellte sich neben ihn,
die Stirn, wie er, den Fensterscheiben zugewandt; er
war ihr angenehm in diesem Augenblicke, weil sie ihn
so gut begriff. — „Soll ich Ihnen einmal etwas sagen,"
fuhr er fort, immer noch als führe er das Gespräch
nur in Gedanken, wie man oft in sich Zwiegespräche
führt und die andern antworten läßt, was man am
treffendsten selber beantworten kann, „soll ich Ihnen
etwas sagen, etwas das so wahr ist, als daß Sie und
ich hier stehen?" — Als sie nicht antwortete, fuhr er
fort: „Und dieß ist, daß Ihre Schwester Herrn von R —
nicht liebt und er sie nicht. Ich will mein Leben lassen,
wenn das nicht die Wahrheit ist!"
Therese fand sich vollkommen in seine Weise.
„Was hilft uns beiden das?" antwortete sie und sah
gerade aus.
„Also Sie wissen es auch? Sie wissen es?" rief
er feurig. „Sie wissen es?" — Therese erwachte.
„Wozu nüzt dieß Gespräch?" sagte sie. — „Ich werde
Emma nicht loslassen, ich kann eö nicht!" rief Emil