Full text: Zeitungsausschnitte über Veröffentlichungen von Herman Grimm: Über Erzählungen und Gedichte

© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 26 
,5^20 486 
ihrer Bedeutung für dos menschliche Wissen so weit 
vorzuziehen, als die Seele uns näher ist denn die 
Sterne des Himmels, und als der bewußte Geist höher 
steht denn die Natur. 
Es kann nicht unsere Absicht seyn, die Resultate 
dieser mathematischen Forschung, oder gar die Berech 
nungen selbst auch nur annäherungsweise hier mitzu 
theilen; dagegen wird es erforderlich, aber auch genügend 
seyn, wenigstens den Gegenstand derselben, die That 
sachen, welche zur Rechnung veranlassen, und deren 
Erfolge zu bezeichnen. Die Reihenfolge und Auswahl, 
welche wir beobachten, kann nicht der strengen Wissen 
schaft folgen, vielmehr müssen wir darauf bedacht seyn, 
von dem Bekanntesten auszugehen und die möglichste 
Klarheit zu sichern. 
Vor allem wolle der Leser sich auf die einfache 
und allbekannte Thatsache besinnen, daß von den sämmt 
lichen Gedanken und Vorstellungen, welche ein Mensch 
besizt und die seinigen nennt, zu jeder Zeit nur sehr 
wenige augenblicklich und gegenwärtig gedacht werden 
und sich im Bewußtseyn befinden. Gesezt, wir sind in 
diesem Moment irgend womit beschäftigt, wirschreiben, 
lesen, malen, nähen, sticken u. dgl., so haben wir unser 
Denken auf das waS wir schreiben, lesen rc. gerichtet, 
oder diese Vorstellungen erfüllen unser Bewußtseyn; 
alles andere aber, was wir sonst gedacht haben und 
wissen, wovon die Vorstellungen in uns liegen, so daß 
sie, wenn sich die Veranlassung dazu fände, wieder 
hervortreten und gedacht werden könnten, wird doch in 
diesem Moment nicht gedacht, nicht vorgestellt. Wir 
müssen also bei dem, was in unserem Innern sich be 
findet, waS unser Wissen, Denken und Vorstellen aus 
macht, genau das unterscheiden, was in jedem Moment 
als gegenwärtige Vorstellung im Bewußtseyn ist, von 
dem, waö augenblicklich nicht gedacht wird und außer 
halb des Bewußtseyns sich befindet. Wir könnten die 
sen Unterschied der bewußten und unbewußten Vor 
stellung etwa mit dem der freien und der latenten 
Wärme vergleichen, wenn es überhaupt der Verglei 
chung bedürfte und er nicht vielmehr an sich durch all 
augenblickliche Erfahrung klarer wäre, als irgend ein 
Vergleich ihn machen könnte. 
Das hauptsächliche und eigentliche Geschehen in 
unserer Seele, die wirkliche Thätigkeit besteht wesentlich 
nur in dem deutlichen und bewußten Denken einiger 
Vorstellungen, welche in je einem Moment im Be 
wußtseyn sind; nur dieß ist ein Denkakt. Es kommt 
viel, fast alles darauf an, sich diesen einfachen Ge 
danken klar zu vergegenwärtigen und ihn festzuhalten. 
Es muß deßhalb auf eine Zweideutigkeit aufmerksam 
gemacht werden, welche mit dem deutschen Worte Be 
wußtseyn verbunden ist. Etwas mit Bewußtseyn thun 
oder denken heißt nämlich auch, dieses Denkens bewußt 
werden, oder, indem man etwas denkt, zugleich wissen, 
daß man es denkt. In diesem Sinne ist Bewußtseyn 
die eine Vorstellung begleitende Refierion aus dieselbe, 
und der Zustand dieses reflektirenden Bewußtseyns ist 
für den Menschen keineswegs ein seltener; wir haben 
ihn z. B. fast immer, wenn wir uns in Gesellichast 
befinden; dann achten wir aus alles, waö wir selbst 
thun und denken; dagegen wenn wir uns, wie man zu 
sagen pflegt, gehen lassen, oder aber, wenn wir uns 
in eine Sache vertiefen, dann entbehren wir desselben, 
und oft genug fällt es uns plötzlich ein, daß wir eine 
ganze Reihe von Gedanken gedacht, eine That vollzo 
gen haben, ohne daß wir während derselben Zeit 
daran gedacht haben, daß wir denken, thun, d. h.- 
ohne daß wir uns dessen bewußt waren. Beiläufig sey 
es hier bemerkt, daß jener Zustand der Selbstbeobach 
tung weder der glücklichste noch der vortrefflichste ist; 
zwar vor und nach jedem Thun wird jeder Besonnene 
sich desselben bewußt zu werden streben, aber all sein 
Denken und Thun während deffelben allezeit zu be 
obachten, ist eine Sache besonders dessen, den man ei 
nen reflektirten Menschen zu nennen pflegt, welcher so 
zu seyn und zu handeln, wie er in gänzlich unbewachten 
Momenten seyn und handeln würde, entweder kein 
Recht oder kein Zutrauen hat. 
Die zweite Bedeutung des, von dem reflektirenden 
unterschiedenen, Bewußtseyns ist diejenige, in welcher wir 
das Wort oben gebraucht haben und in diesem Zusam 
menhange immer gebrauchen werden, nämlich als der 
Zustand der wirklichen und deutlichen Thätigkeit der 
Seele, und wir nennen also diejenigen Vorstellungen 
im Bewußtseyn vorhandene, welche in diesem Momente 
gedacht oder vorgestellt werden, im Unterschiede nur 
von denen, die zwar in uns liegen, aber jezt nicht 
gedacht werden, sich außer dem Bewußtseyn befinden. 
Sprachlich kann man beide Bedeutungen des Bewußt 
seyns so auseinander halten, daß man Vorstellungen 
im Bewußtseyn und Vorstellungen mit Bewußtseyn 
unterscheidet. 
(Schluß folgt.) 
487 0S!S'!r v '- 
Das Kind, 
eine Erzählung von Hermann Grimm. 
(Fortsetzung.) 
Ueber Emil hatten die Verlobten nicht gesprochen, 
nicht einmal der Name war genannt worden. Aber 
Emma war so offen und so bezaubernd freundlich gegen 
Albert, daß dieser ihn bald vergaß. Nur Eines war 
seltsam. Es gab Zeiten, wo das Kind einsam im Gar 
ten ging, stehen blieb, weiterschritt, sich an einen Baum 
lehnte und in die Luft sah oder einem Käfer lange mit 
den Augen folgte, der am Stamme hin und her kletterte. 
Therese schien das allein zu sehen; auch bemerkte sie, 
daß ihre Schwester oft die Treppe ganz langsam hin 
aufstieg und eben so hinab, während sie sonst immer 
drei, vier Stufen auf einmal zu nehmen pflegte. Auch 
sie hatten nur ein einziges mal über Emil zusammen 
geredet. Es mochte acht Tage nach dem Balle seyn, 
als Therese, die Nachts nicht schlief, Emma unruhig 
sich bewegen hörte, bis diese ganz leise ihren Namen 
nannte. „Therese, schläfst du?" — „Nein, Kind, 
warum schläfst du nicht?" — „Ich wachte nur zufällig 
auf; gute Nacht." Nach einer Weile: „Therese!" — 
„Ja, Kind?" — „Weißt du, als wir damals am Mor 
gen im Garten waren und Albert dazu kam, gingst du 
mit dem Herrn hinter uns her. Habt ihr da noch 
lange gesprochen?" — „Nein, nicht lange." — „Ich 
dachte, ihr hättet euch noch allerlei erzählt." — „Was 
sollten wir uns erzählt haben? wir waren ja gleich am 
Hause." — „Nun, der Weg war doch lang." — „Ja, 
aber er schwieg still." — „So, er schwieg still?" 
Sie schwiegen wieder; darauf begann das Kind 
von neuem: „Weißt du, Therese — ?" —„Sei?" — 
du, was mir immer io sonderbar ist? Als Albert im 
Cotillou Plötzlich hinter uns saß, war mir das gar nicht 
recht zu Anfang, und doch bin ich nie so glücklich ge 
wesen, als da ich ihm die Camelie gab und hinterher. 
Albert ist so gut." — „Gewiß, das ist er." — „Ich 
freue mich so aus Rom, ich wollte wir wären schon auf 
der Reise." — „Das werden wir bald genug seyn." — 
„Ja, recht bald; gute Nacht." 
Dießmal schliefen sie beide ein und träumten, die 
eine von Italien, die andere von ihrer Schwester Aus 
stattung. 
Albert hatte bei seinen Reisen in fremden Ländern 
einen scharfen Blick für die Dinge gewonnen. Wir 
nehmen es dießmal nur im äußerlichsten Sinne. Wenn 
er mit Emma spazieren ging, schien es ihm öfter, als 
rausche seitwärts etwas in das Gebüsch, wie ein Wild, 
das aufspringt und davon eilt, und doch meinte er, es 
wäre eine Männergestalt gewesen. Das Kind lachte 
und behauptete, die Bauernkinder stellten Sprenkel oder 
suchten Nüsse, denn man war ja im Herbste. Aber als er 
einmal allein durch das Feld ging, begegnete ihm Emil 
auf breitem Wege, sah nach links ab und ging unbe 
fangen an ihm vorüber. Was sollte daS bedeuten? 
Die Güter lagen doch fast eine Meile auseinander. 
Eineö Abends endlich, als Albert so im Zwielicht den 
Garten durchstreifte, hörte er deutlich, daß etwas von 
der niedern Mauer, welche ihn umgrenzte, herabsprang, 
und plötzlich stand wieder der junge Mann vor ihm, 
that aber an ihm vorüber einige Schritte in einen Ra 
senplatz und rief laut, wie man einem Hunde ruft. 
„Herr von M...." sagte Albert und trat an 
ihn heran, „wenn ich nicht irre?" — „Ja, ganz recht, 
guten Abend. Mein Hund ist da oben durch die Sta 
keten in den Garten gerathen, ich hörte ihn plötzlich 
anschlagen und sprang rasch über die Mauer, um ihn 
herbeizulocken. Das Thier ist oft, als kennte es meine 
Stimme gar nicht mehr." 
„Pflegen Sie hier in der Umgegend zu jagen? 
wenn'ich fragen darf." - „Nein; ich war hier in der 
Nähe und hatte da zu thun. ES fiel mir ein, den 
Rückweg zu Fuße zu machen, der Bediente mit den 
Pferden ist voraus." Dieß antwortete er nachlässig und 
halb abgewandt, pfiff und drohte dem Hunde, der aus 
der Ferne herangesprungen kam. 
„Sie haben wohl öfter hier in der Nähe zu thun?" 
fragte" Albert höflich, aber mit etwas zweifelndem Ac 
cent. — Warum?" antwortete Emil und streckte dem 
Hunde die Hand hin, an der er in die Höhe sprang. 
— „Weil ich Sie öfter hier gesehen zu haben glaube. 
Gingen Sie nicht neulich oben bei der Buchenschonung 
an mir vorüber?" — „Das ist nicht unmöglich." — 
„Es ist Schade, daß Sie dann nicht einen Augenblick 
bei uns eingetreten sind." — „Ich werde das nächstens 
einmal thun, wenn Sie nichts dagegen haben." — 
„Leider werden Sie nur wahrscheinlicherweise in diesem 
Falle mich und die Familie meines Freundes nicht mehr 
zu Hause finden, denn wir reisen übermorgen nach
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.