© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 26
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der Wahrheit und dem Wissen schmelzen. Nicht aus- j
führen, aber andeuten kann ich es, daß der Menschen- >
geist sich im Suchen und Forschen nach dem Innern der
Natur ewig fruchtlos und vergebens abmüden und ab
ringen würde, wäre er nicht selbst ein Inneres zugleich
und Natur, ein Strahl leuchtend und sehend zugleich.
Zweitens aber ist die Seele, wie schon angedeutet,
nicht bloß selbst das Centrum, sondern auch deö ganzen
Kreises unserer Natur- und Weltkenntniß Spiegel und
Abbild. Von innen heraus begreift der Mensch, wie
sich selbst, auch daS All, das er in seinem Innern
trägt; er kann nach Außen schauen und die Dinge se
hen, begreifen kann er nur daS Bild davon, das
sich in seiner Seele spiegelt, und wir müssen daher ei
nen forschenden, klaren Blick in die Werkstatt der Be
griffe werfen, um zu prüfen, ob die Produkte derselben
der Wahrheit und der Sache gemäß gebildet sind ober
nicht. Das ist die Psychologie als Vernunft- und Ver
standeskritik.
Endlich aber hat die Seele noch eine andere Seite
als die der Natur; zwar selber zu ihr gehörend und
Centrum und Abbild derselben, erhebt sie sich doch alö
Geist im höheren Sinne über sie, erbaut sich eine ei
gene höhere Welt, wovon kaum ein Vorbild in jener
natürlichen liegt, das Reich des religiösen, ästhetischen
und moralischen Lebens, Sinnens, Denkens und Schaf
fens; die ganze Breite und Fülle des Menschlichen,
specifisch Humanen, womit der Geist einen Theil der
Natur belebend durchdringt, aber auch über alle Natur
und alles Endliche hinaus dringt, zum Unendlichen und
Ewigen sich forschend emporhebt und lebend gestal
tet; kurz, es sind dieJdeen, welche nicht bloß Eigen
thum, sondern das Lebenselement des Geistes werden.
Das Daseyn, Wesen und Wirken derselben aus den
ganzen Menschen, die Entwicklung, die zu ihnen und
von ihnen kommt, ist der höchste Gegenstand der psycho
logischen Forschung, welche nichts anderes ist, alö das
wissenichaftlich gewordene höhere, edlere Selbstbewußt
seyn der Menschheit.
Sollte man nun nicht glauben, diese Wissenschaft
muhe die erste gewesen seyn, welcher sich der Forschungs
geist zugewendet, und allezeit die vorzüglichste? Ihrer
Bedeutung nach gewiß, und doch ist sie in der Reihe
der philosophischen Disciplinen, selbst dem Streben nach,
historisch die lejte gewesen, dem deutlichen Bewußtseyn ;
sl | Hr llbcr ^ e _ unt> den Resultaten nach ist sie sogar erst
ein Kind unseres Jahrhunderts. Dieß aber aus vielen
und vornämlich zweien sehr natürlichen Gründen. Zu-
nachtt weil der Geist einer weiteren Erfüllung und
Sättigung von allerlei Weisen deS Denkens und aller
innern Thätigkeiten bedurfte, bis der Einzelne einen
solchen Reichthum von Thatsachen in seinem Innern
hatte, daß er das Bedürfniß der Ordnung und Sich
tung in seinem Selbstbewußtseyn zu fühlen begann,
oder die mancherlei Bewegungen seines Gemüths theo
retisch oder praktisch in Widerspruch geriethen, der durch
die Wissenschaft gelöst werden mußte; hier der Ur
sprung der sokratischen Auffassung des delphischen Aus
spruchs: „Kenne dich selbst," an welchen sich historisch
die ersten psychologischen Betrachtungen knüpfen.
Hieraus folgt das zweite, daß diese Wissenschaft,
wie es schon in ihrer allseitigen Beziehung auf daö ge
summte Geistesleben liegt, von allen die schwierigste ist
wie die bedeutsamste. Natur und Geschichte, Sinnli
ches und Geistiges, Menschliches und Göttliches, daö
Leben des Einzelnen und der Gesammtheit mit ihren
Erfolgen müssen erst erkannt oder doch mannigfaltig
beleuchtet seyn, ehe die innern Beziehungen und Ver
hältnisse der Seele zu diesen allen wissenschaftlich er
saßt werden können; alle Begriffe müssen gebildet
und festgestellt, alle Ideen erkannt und wirksam, kurz
alle Wissenschaften müssen in Blüthe seyn, wenn die
Psychologie erfolgreich untersuchen soll, wie Begriffe
gebildet, wie Ideen wirksam, wie Wissenschaften
bewahrheitet werden. Und je größer die Fülle des
Geistes, je mannigfaltiger und verschiedenartiger in
«verschiedenen Zeiten und Individuen die Bildung und
Entwicklung, je mehr die Wissenschaften blühen und
zu verschiedenen Resultaten führen, desto schwie
riger, wie auch fruchtbarer wird daö Geschäft der
Psychologie.
Aus diesen beiden Gründen zusammengenommen
erklärt sich nun auch die Berechtigung, ja Nothwen
digkeit, daß wie am Schluß der vielseitigen, verschieden
auslaufenden griechischen Philosopheme der Ionier,
Pythagoräer, Eleaten, Heracliten, Atomisten und 'Lo-
phisten, die sokratische Selbstbetrachtung gleichsam als
die erste psychologische Besinnung uns Sichtung ein
trat, eben so in unserer Zeit wieder ein Abschluß er
folgt. Nachdem seit einem Jahrhundert die Philo
sophie System nach System erbaut und gestürzt, die
Tendenzen aller der genannten griechischen (des pla
tonischen und aristotelischen ltoch hinzugenommen)
wiederholt, ausgebaut, erweitert und bekämpft hat,
nachdem so daö Selbstbewußtseyn unendlich berei
chert und einer Fülle inne geworden ist, wie die
Menschheit sie noch nie gekannt, zugleich aber so wi
dersprechende und widerstrebende Ideen und Principien
des einzelnen wie des öffentlichen Geistes zur Erkennt
niß, ja zur Geltung gekommen, wie sie ebenfalls noch
kein Zeitalter gekannt hat, muß nunmehr die Psychologie
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daö Geschäft übernehmen, die Entstehungöweisen
und Gründe aller dieser Geistesrichtungen aufzu
decken; denn diese Erkenntniß allein ist der Ariadne
faden, uns aus dem Labyrinthe einer bis zum Unge
heuren gediehenen Geisteszerklüftung herauszuführen.
Also die Nothwendigkeit und die Möglichkeit einer um
fassenden und tief greifenden psychologischen Betrachtung
beruhen beide allererst aus dieser vorangegangenen, man
nigfaltigsten Ausströmung des Geifteö, daher denn auch
selbst die Fassung auch nur der Bedeutsamkeit der Psycho
logie, wie ich sie oben kurz angegeben, ein Ergebniß der
neuesten Wissenschaft ist.
Aus diesen Gründen wird auch ersichtlich, wiewohl
noch mannigfache speciellere mitgewirkt haben, weßhalb
die Weise der psychologischen Betrachtung, zu welcher
wir nun übergehen müssen, bis jezt meist unrichtig und
unvollkommen gewesen. Wir können hier weder einen
historischen noch vollends einen kritischen Nachweis von
den früheren Mängeln und neuesten Fortschritten in der
Psychologie führen; nur so weit es zur Orientirung
geradezu nothwendig ist, wollen wir mit wenigen, aber
deutlichen Zügen den wissenschaftlichen Hintergrund
zeichnen, auf dem wir unsern Gegenstand unmittelbar
darstellen werden.
Die erste Frage der Psychologie, könnte man mei
nen, sey die nach dem Wesen der Seele und ihrer
Qualität, ob sie ein endliches oder ein ewiges sey
u. s. w.; es ist auch die am frühesten und fleißigsten
behandelte; aber sie berührt nicht denjenigen Theil der
Psychologie, über welchen zu berichten wir uns hier
vorgesezt haben. Nicht das Wesen und die Substanz,
sondern die Thätigkeit der Seele, das Leben des
Geistes und seine Erzeugnisse, das ist die eigentliche
Aufgabe unserer Wissenschaft, zu deren Lösung die Ma
thematik zu Hülfe gerufen wird.
Alles Wissen über irgend ein Ding und Verhältniß
kann man als die Beantwortung der zwei Fragen fassen:
was ist es, worin besteht eö? und wie, wodurch be
steht es, aus welchen Ursachen, Gründen, unter wel
chen Bedingungen, nach welchen Gesetzen? Ist nun das
Objekt ein Mannigfaltiges, so muß man vor allem
seine Bestandtheile aufzählen, will man es darstellen.
Das Leben der Seele, das Gemüth, wie Kant eö mit
Einem Worte nennt, oder das Innere des Menschen
ist nun aber ein Mannigfaltiges.
Wir wissen es alle, daß man seit lange in der
Sprache wie in der Wissenschaft unterscheidend viele
Thätigkeiten der Seele aufzählt: Empfinden, Fühlen,
Begehren, Denken, Vorstellen, Wollen rc. Mehr oder
minder genau umschreibt man mit all diesen Worten
zusammengenommen die Summe und daö Ganze deö
inneren Lebens. Vollständig ist diese Unterscheidung
und Aufzählung sicherlich nicht, denn eine leichte Mu
sterung zeigt uns eine Menge von Thatsachen, die zwar
anderweitig anerkannt, aber in der Reihe dieser Begriffe
nicht gefunden werden. So z. B. die Thätigkeit des
poetischen oder sonst künstlerischen Schaffens wird we
der durch Denken noch Fühlen und dergleichen bezeichnet
werden können; man sagt gewöhnlich, sie gehören der
Phantasie oder Einbildungskraft zu, und doch ist Phan-
tasiren etwas ganz Anderes, und Einbilden wird eben
falls in niedrigerem Sinne gebraucht. Sogar die be
kannteste und wichtigste Erscheinung im Seelenleben,
nämlich das Wiederholen eines Gedankens oder einer
Vorstellung durch innerliche Veranlassung ohne äußeres
Objekt, hat alö psychische Thatsache keine besondere
Stelle, das Erinnern wird dem Denken ohne weitere
Unterscheidung beigesellt, wiewohl Gedächtniß und Denk-
krast doch wiederum weit auseinander liegen. Wir
können aber den Mangel an V o l l st ä n d i g k e i l in der
Aufzählung und Classifikation der geistigen Erscheinun
gen füglich übergehen, da dieser noch am ehesten zu
ergänzen wäre. Auch darauf wollen wir kein großes
Gewicht legen — wiewohl es schon bedeutsamer und
schwerer zu verbessern ist — daß alle diese Begriffe
an sich selber ungenau, ihre Grenzen unbestimmt und
damit für eine klare und deutliche Erkenntniß unge
nügend sind. Wohl jeder wird es erfahren haben,
wie oft das gesellige Gespräch unter Gebildeten sich
auf die Frage wendet, ob diese oder jene specielle psychi
sche Thatsache mehr dem Gefühle oder der Empfindung,
dem Denken oder dem Wollen angehörte u. dergl. m.
Eine bessere Psychologie würde viel unnützes, an
scheinend sehr wichtiges Gerede verhütet haben, hätte
sie genauere und festere Bestimmungen gegeben, alö
mit denen man sich jezt oft ganz vergeblich um eine
Uebereinstimmung abmüht. Gesezt aber, wir besäßen
in der früheren Psychologie eine vollständige und eine
genaue Beschreibung aller Arten des geistigen Thuns,
so wäre dieß doch nur erst eine richtige Bezeichnung
deö Gegenstandes der Wissenschaft; diese aber hat die
Ursachen, Gründe, Gesetze der Erscheinung nachzuweisen,
die vielseitige Thätigkeit muß nicht bloß geschildert, son
dern auch erklärt werden.
Fragt man nun etwa nach den Gründen der That
sachen, also z. B. woher dieser bestimmte Denkproceß?
so wird geantwortet: durch die Denkkraft, und das
Wollen durch die Willenskraft u. s. w. Es werden also
der menschlichen Seele eine Reihe von Kräften oder
Vermögen zugeschrieben, kraft und vermöge deren sie
eine Reihe von verschiedenen Thätigkeiten vollzieht,