MorgenbtaN
für
gebildete Leser.
Nr. 21.
20. Mai 1855.
Wenn die Mathematik ein so vortreffliches Werkzeug eurer Nachforschungen ist warum
versucht ihr denn nicht, es zu brauchen bei dem, was euch das Wichtigste und Nöthigste
ist? Was ist euch wichtiger, die Notation der Erdachse oder das Schwanken eurer Mei
nungen und Ncigungtn? Was ist euch nöthiger, die Stabilität des Sonnensystems oder
die Befestigung eurer Grundsätze und Sitten?
Es ist nicht bloß möglich, sondern nothwendig, daß Mathematik auf Psychologie ange
wendet werde; der Grund liegt darin, daß sonst dasjenige schlechterdings nicht kann
erreicht werden, was durch alle Spekulation am Ende gesucht wird, und das ist —
Ueberzeugung.
Mathematische
Wenn wir voraussetzen, daß eine große Anzahl,
vielleicht die meisten der Leser dieser Blätter sich bei
dieser Ueberschrift fragen werden: was ist das? was
heißt mathematische Psychologie? — so glauben wir
ihnen damit keineswegs zu nahe zu treten; wir würden
ihnen aber sicher zu nahe treten, wenn wir nicht zu
gleich voraussetzen wollten, daß jedem eine ausführliche
Antwort willkommen seyn werde. Gegenüber der un
zweifelhaften Thatsache, daß von den ungeheuern
Fortschritten, ja eigentlich von dem neuen Anlauf
der psychologischen Wissenschaft in unserem Jahr
hundert dem gebildeten Publikum nur erst eine geringe
und unklare Kunde geworden ist, bedarf jeder Ver
such, diese wenn auch erklärliche, doch nicht minder
nachtheilige Versäumniß der Wissenschaft nachzuholen,
keiner weiteren Motivirung; denn wenn irgend ein
Wissen, eine Kenntniß und Erkenntniß irgend eines
Dinges uns am Herzen liegt, irgend Wahrheit ihren
Werth in sich selber hat, ohne alle äußere Rück
sicht und Nützlichkeit, so ist es vor allem das Wissen
um uns selbst, die Kenntniß unseres eigenen Wesens
und Wirkens. „Das Studium des Menschen ist
Morgcnblatt. 1855. Nr. 21.
Psychologie.
der Mensch," der wahre, eigentliche, der innere
Mensch.
Wäre auch wahr, waö die Seele vor den großen
und gewaltigen Räthseln des Weltenlebenö staunend
und verzweifelnd ausruft: „in's Innre der Natur dringt
kein erschaffner Geist," weil die ganze äußere Natur
eben immer die äußere, außer unS ist und bleibt —:
nun, der Mensch ist auch ein Stück Natur, ein Glied
in ihrer großen Kette, und hier ist er selbst in ihrem
Innern, ist selbst das Innere, und sich selber schauend
und betrachtend sieht er die Natur und ihr Gesetz.
Also abgesehen von dem vielbekannten und darum hier
zu übergehenden moralischen und religiösen Vortheil der
Selbfterkenntniß, bildet sie das tiefste, allgemeinste In
teresse alles Wissens und aller Wahrheit durch ihre
dreifache Bedeutung für dieselbe.
Einmal ist die Seele das einzige Wesen im ganzen
Reiche der Natur, welches uns sein inneres Daseyn und
Gesetz unmittelbar zum Bewußtseyn und zur Erkennt
niß bringen kann, der einzige Punkt, wo die Natur sich un
getrenntundungeschieden in sich selber leuchtend offenbart,
der Brcnnspiegel, unter welchem allein alle Zweifel an
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