© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 26
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hes Willens für die Pflicht der ernsteste, das schwie
rigste was es gibt, und gesetzt wir fänden eine Lage
deS Lebens, welche uns der Lösung dieser Aufgabe da
durch näher brächte, daß sie an sich schon den Willen
in ein freieres, weniger gespanntes und absichtsvolles
Verhältniß zur Pflicht stellte, so würde eine solche Lage
zum Ansetzen sittlicher Kunstkeime gewiß geeigneter seyn
als die gewöhnliche straffe, nach allen Seiten hin auf
unmittelbare Reaction berechnete des beruflichen Lebens.
Inline solche Lage versetzt unö das Reisen, und.Dir
hätten in demselben demnach doch ein bequemes Fahr
wasser für den Willen? Gewiß, wenn nicht auf der
andern Seite der Nachtheil desto größer wäre und auf
diese Weise, wenn das Resultat gezogen wird, der ver
meintliche Vortheil wieder Null von Null aufginge.
Beides aber, Vortheil und Nachtheil in dem ethischen
Verhältniß des Reifens stellt uns nun die eigenthüm
liche Aufgabe.
Zunächst lehrt schon die gemeine Erfahrung, .daß
der eigentliche Reisegenuß eine besondere Reifelaune vor
aussetzt. Diese besteht, von außen besehen, darin, daß .
wir dieDinge leichtnehmen, wie sie sich darbieten,
nicht aMin in Bezug auf die fortwährenden Hudeleien,
denen wir unterwegs ausgesetzt sind, nicht allein in Bezüg
auf die Entbehrung der daheim gewohnten Bequemlich
keiten, deren wegen allein schon das Greisenalter vom
Reisen abmahnt, sondern auch in Bezug auf die freie,
genußvolle Berührung mit der Welt. Dieses die Dinge
leicht nehmen, ohne doch die Pflicht hintanzusetzen,
ist nun im gewöhnlichen Leben nichts weniger als leicht;
es setzt eine ethische und ästhetische Fertigkeit voraus,
welche nicht angeboren ist, noch mit der Muttermilch
eingesogen werden kann. Das Reisen aber macht es
unö leichter, denn der rasche Wechsel und die Häufung
neuer Eindrücke, deren einer den andern neutralisirt
und aufhebt, hindert, daß die Furchen, die sie im Ge
müth zurück lassen, tiefer einschneiden und dasselbe lei
denschaftlich aufwühlen, oder auch nur turbiren. So
saugen die Sinne nur Honigtheilchen aus den blü
henden Gestalten, auf welchen sie flüchtig ruhen, das
tiefer liegende Gift mischt sich dem eilenden Genusse
nicht bei.
Auf der andern Seite dagegen ist unser Verhält
niß zur Welt doch ein unendlich ernstes, und diese reizt
uns auch beständig, sie ernsthaft zu nehmen, indem sie
tlnser innerstes und geheimstes Leben unvermerkt in ihr
Spiel zieht. Im gewohnten Kreise wirkt auf diese Art
regelmäßig nur Gewohntes ein; wir kennen die meisten
Anlässe, sehen sie voraus, wissen aus Erfahrung ihre
Tragweite zu schätzen und vor der Schädlichkeit der
Einwirkung uns zu bewahren. Anders auf Reisen:
hier überrascht uns die nächste Minute mit Reizungen,
deren Gehalt und Gewalt wir erst erfahren, wenn die
Wirkung auf uns geschehen ist. In jedem Augenblick
und nach allen Richtungen hin wird der Charakter in
dieser Lage auf die Probe gestellt. i^Mke Gefahr der
mannigfachsten, die gewohnte sittliche Hiät durchkreu
zenden Versuchungen stellt erhöhte Anforderungen an
die Energie unseres Willens..
Wir sehen also einerseits die Aufgabe eben so sehr
erschwert, als andererseits erleichtert, beiderseits aber
kann es nur eine und dieselbe Lösung geben, denn das
Problem ist eben nur Eines. Wie nun überhaupt die
ethische Vollkommenheit darauf beruht, daß das wahre
Verhältniß des persönlichen Willens zur Welt von dem
Individuum erkannt und in jedem Momente seiner Thä
tigkeit verwirklicht werde, so kann auch der Reisende
das ihm gestellte ethische Problem nur lösen, indem er
das eigenthümliche Verhältniß, in dem er als solcher
zu Welt und Menschen steht, begreift und stets vor
Augen hat. Dieses zu erkennen, kann uns nach dem
bisherigen nicht schwer fallen. Während im gewöhn
lichen.Leben, sofern es gesund ist, die ethische Tendenz
eine vorwaltend im gewohnten Kreise beharrende, ord
nende, von Punkt zu Punkt treu an die vorhergehende
Eristenz anknüpfende, mit bekanntem Material stetig
aufbauende seyn muß, kennzeichnet das Reiseleben ge
rade wesentlich das Vorübereilen an den Dingen, der
flüchtige Wechsel mit denselben, das verworrene Durch
einander der Anschauungen, die Neuheit und Fremdar
tigkeit der Stoffe, der momentane plötzliche Reiz zu
den heterogensten Thätigkeiten ohne nachhaltigen oder
sichern Effekt, endlich die Unverbundenheit und Plan
losigkeit vorübergehender Ansätze zum Handeln selbst.
Dort finden wir uns als gebundene Glieder der ethi
schen Organismen, der Familie, der bürgerlichen Ge
sellschaft, des Staats, der Kirche, nach allen Seiten
hin in einem bestimmten Zusammenhange, unser Han
deln normirt und beschränkt nach angelebten Verhält
nissen und Zwecken; — hier als freie Gäste und Zu
schauer von Land und Leuten, gleichgültig angesehen
oder interessirt, aber ungehaßt und ungeliebt. Der Rei
sende ist seiner Umgebung ein lebendiges Fragezeichen
und befindet sich in fortwährender Erspectanz; nur der
Daheimbleibende gibt die ethischen Antworten und füllt
die ethischen Aemter aus.
Wir werden daher zu der scheinbar widersprechen
den Behauptung kommen müssen, daß die ethische Be
deutung des Reifens in der Darstellung einer sittlichen
Lebensweise außerhalb aller sittlichen Organismen be
stehe, in deren fester Gliederung doch der Compler alles
sittlichen Handelns, auch der sogenannten Pflichten gegen