Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 21
aus : Neue Zürcher Leitung
Feuilleton
Die Bestattung Betsy Meyers.
„ Der etwas bewölkte Morgen des 25. April hatte
sich zum strahlenden Tag aufgelichtet, als ich zwischen
9 und 10 Uhr in Wildegg aus der Bahn stieg. Der
Weg führte mich über die lange Brücke von der
Station ans linke Aarufer hinüber und dann strom-
abwärts am romantischen Schloß Wildenstein vor-
bei gegen das Dorf Veltheim. Dort liegt vor dem
Eingang zu den meist stattlichen und teilweise noch
mit Stroh gedeckten Häusern dicht an der Straße
und etwa zwei Meter unter ihr auf der wenig über
dem Aarespiegel liegenden Terrasse das gemütliche,
auf weißgemörteltem Unterbau ruhende hellbraune
Chalet Rischmatt, das Betsy Meyer als ihre letzte
Wohnstatt und Zuflucht 1899 erbaut hatte. Sie
war, seit sie es bezogen, kaum mehr als einmal
nach Zürich gekommen, einmal nach Genf zu den
alten Freunden Mästet und Naviste und sonst kaum
weiter als nach dem Schloß Wildegg, wo ihre
Freundin Fräulein von Effinger wohnt, die letzte
ihres Geschlechts.
Betsy Meyer (19. März 1831 bis 22. April 1912)
ist meines Wissens während ihres ganzen Lebens
niemals ernstlich krank gewesen. Etwas stark ge-
worden, klagte sie schon lange gelegentlich über ihr
Herz, und ihre Füße gestatteten ihr schon seit Jahr-
zehnten nur bescheidene Spaziergänge. Aber sie er-
freute sich einer erstaunlichen Rüstigkeit und Frische
des Geistes und eines im ganzen wenig gestörten
leiblichen Wohlseins. Im verflossenen Winter be=
gann sie über Müdigkeit zu seufzen und klagte nicht
selten, sie sollte diese oder jene Briefschuld abtragen
- denn sie führte eine ziemlich ausgedehnte Korre-
spondenz —, allein sie fühle sich nicht aufgelegt und
zu matt dazu. Schwäche nötigte sie, die letzten zwei
Tage meistens im Bett zu verbringen. Am Montag
den 22. April erschien von Wildegg her ihr Arzt,
nicht von ihr selbst gerufen, sondern von ihrer Um-
gebung. Er war kaum nach Wildegg zurückgekehrt,
so erhielt er die Nachricht, sie sei sanft entschlum-
mert, von einem Herzschlag hingerafft, wie ihr
Bruder auch.
»Ich gehe heim", äußerte sie kurz vor dem Ende.
Nun lag sie aufgebahrt in dem Zimmerchen rechts
vom Eingang des Chalets, zu dem man von der
Straße, ein paar Stufen hinaufsteigend, über ein
Brücklein gelangt. Sie war von Blumen umgeben
und mit einem weißen Häubchen angetan. Während
man so häufig die Beobachtung macht, daß das Ge-
sicht von Verstorbenen dermaßen zusammengeht, daß
man es mit einer Hand glaubt bedecken zu können,
zeigte sich bei Betsy die ungewöhnliche Größe ihres
Kopfes erst recht. Aber das Gesicht, das im Leben
so häufig ein freundliches, kühles Lächeln kühles
blickte fast drohend und wie wenn es dasjenige einer
starren Kämpferin gewesen wäre.
Der schwarze Sarg wurde geschloffen und auf
den Leichenwagen hinausgetragen. Voran schritten
ihm ein Dutzend Schulmädchen, je zu zweien,
Kränze, Sträuße, Palmen in den Händen, in ihren
farbigen Sonntagskleidern wie freundliche Genos-
sinnen aus dem Zuge der ländlichen Frühlingsgöttin.
Hinterher kamen im Sonntagsgewand die Bauern
des Dorfes und der Umgebung samt wenigen schwarz
gekleideten Herren, die von auswärts hergereist wa-
ren, der Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen.
Ihnen folgte der Gewalthaufe der weiblichen Leid-
tragenden, alle schwarz gekleidet, verstärkt durch
einige Freundinnen aus Zürich. Mit ihnen ging die
Witwe Conrad Ferdinand Meyers. Die Tochter des
Dichters, das geliebte Patenkind der Entschlafenen,
war verhindert, die Tante auf dem letzten Gang zu
begleiten: die völlig unerwartete Todesbotschaft hat
sie an der fernen Küste Dalmatiens erreicht.
Der Leichenwagen fuhr an die Mauer des kleinen
Kirchhofs, und der blumenbedeckte Sarg wurde in
die Tiefe des Grabes hinuntergelassen, dessen Ränder
um und um mit Efeu und Frühlingsblumen ge-
schmückt waren, namentlich mit Wiesenschaumkraut,
aus dessen lichter Farbe einige dunkle Garten-
pensées ernst, und wehmütig herausschauten.
Unter den Frauen aus Veltheim und der Um-
gebung trat diese und jene an die Gruft heran und
trocknete sich die Augen. Sie hatte in der Heimgegan-
genen eine Helferin verloren. Frommen Zuspruch,
teilnehmende Tröstung, werktätige Hilfe hatte sich
Betsy Meyer ihr Leben lang angelegen sein lassen.
Darin bestand häufig ihr Tagewerk neben dem Brief-
wechsel über ihren Bruder, nach dessen Werken und
Lebensumständen Verehrer aus nah und fern sich
erkundigten.
Das Leichengeleite füllte die Kirche. Von der
Empore hernieder klang würdig und ergreifend ein
geistliches Lied eines Männerchors. Der junge Orts-
geistliche widmete einem Kinde, das zur gleichen
Stunde bestattet wurde, ein tröstliches Wort und
zeichnete dann Lebensgang und Wesen der Entschla-
fenen, warm, bündig und taktvoll, so daß sich man-
cher Kanzel- und Weltredner daran ein Muster hätte
nehmen können. In den hellen Raum leuchtete die
neue Glasscheibe an der Stirnseite der Kirche: der
Heiland, der mit Petrus und Johannes durchs Korn-
feld wandelt.
Als man wieder auf den Kirchhof und ins Freie
hinaustrat, lachte der Himmel, wanderten die schim-
mernden Wolken, blühten die Bäume und schlugen
die Finken. Wir warfen noch einen Blick auf das
Grab, dann schlugen wir selbdritt den Weg ein über
das Feld gegen die Station Schinznach. Es ist ein
anmutiges, friedvolles Gelände, das Betsy Meyer
aus ihren Fenstern täglich vor Augen hatte: der
Höhenzug, den das Schloß Wildegg krönt, der Will-
pelsberg mit der Habsburg und im Grunde die zie-
hende Aare. Unterwegs anhaltend gönnten wir und
einen Blick auf die liebliche Gegend, die sich hinter
uns auftat: links Wildegg, rechts Wildenstein und
in der Mitte dahinter die Feste Lenzburg.
Es rauschte in den Bäumen und übersFeld wie ein
letzter Gruß der Verstorbenen, mit der ich so oft zu-
sammen gewesen.
Der Fährmann holte uns über, und wir be-
stiegen den Zug. A d o l f F r e y.