essisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 20
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Begleitet wird der Zug vom lauten Geläut der Glocken.
Die ganze flimmernde Höhenluft ist erfüllt von ihren vielen,
vielen Stimmen, denn zahllos sind die Kirchen in Mexiko,
und von allen tönt das große Rufen der Glocken. In all
den verschnörkelten, durchbrochenen Türmen schwingen sie
hin und her, immer heftiger, daß sie schier aus den Gerüsten
stiegen. Und alle schreien sie mit weit aufgerissenen
Mäulern ein und dasselbe Wort. — „Tot. tot!" klingt es
aus den dumpf dröhnenden, in tiefem Basse brummenden.
-Lot, totr_ klagen die mit den jchmerzlichsüßen Silber-
stimmen. Die allergrößte fällt vom Dome her wie ein
Donnern in den Chor ein: „Gestorben, gestorben!" Und
dann nehmen die kleinen, eiligen Bimmelglöckchen es
/kreischend auf: „Gestorben, gestorben, gestorben!" — Alle
mischen sie sich, werden zu einem einzigen ungeheuren Weh-
geschrei. Weithin schallt es, als wollten die Glocken an
diesem Totenfeste, noch über die beiden Schneeriesen am
Horizont hinaus, bis zu einem ganz fernen Ohre dringen,
ihm klagen vom größten Menschengram und Menschen
grauen.
Auf Bergeshang hoch über der Stadt siegt der Kirchhof
Dolores. In einem Hain von Eukalyptus. Ewig weht da
der Wind, säuselt in den Kronen der Bäume, streut ihre
schmalen, silbrigen Blätter und knorpligen Früchte, ihre kn
langen, hellen Fetzen sich abschälende Rinde auf den Boden.
— Am Anfang des Kirchhofs gibt es breite Alleen mit den
Gräbern der Reichen, deren Verwandte erst nachmittags
in eigenen Wagen oder auch gar nicht kommen. Viel
Kränze aus Glasperlen sieht man da und Photographien,
unter Glas eingelassen in den Marmor der Denkmale.
Und der Glanzpunkt ist ein runder Platz, wo nur berühmte
Männer liegen dürfen. Diese Teile des Kirchhofs werde«
aut gehalten, und von den Wegen sind die stets nieder-
saufelnden Blätter und Rindefetzen der Eukalyptus säuber
lich wegaefeat. Aber in dem weitaus größten Teil von
Dolores dürfen sie ungestört siegen, denn da wohnen die,
mit denen, wie im Leben so im Tode, wenig Umstände ge
macht werden. Die, denen ihre Hinterbliebenen nur durch
verstohlene Gänge zum Pfandhaus gerade noch ein Einzel
begräbnis letzter Klaffe beschaffen konnten, und jene, für
die auch das unmöglich war. Die mußten ihre letzte Fahrt
im allgemeinen Totenwagen der Allerärmsten antreten.
Je neun Lattensärge in jeder Fuhre, so wurden sie hinaus-
gebracht. Bei kaum grauendem Tage hat man sie wie
Unrat in ihren Behausungen aufgelesen, heimlich beinahe,
als fei es eine Ungehörigkeit, gestorben zu fein und einen
Leichnam zu hinterlassen, für den gesorgt werden muß.
Denkmale gibt es nicht in diesem Teil von Dolores. Latten
kreuze stehen auf einigen wenigen der kleinen dicht an
einander gedrängten Hügel, die meisten sind nur gekenn
zeichnet durch kleine Täfelchen mit einer Nummer. Und
wozu auch mehr, da die Aermsten der Toten ja nur fünf
Jahre Mietskontrakt für ihr letztes Stübchen haben. Was
von ihnen dann doch etwa eigensinnig vorhanden, wird auf
den Gebeinhausen gekehrt, dort hinten am äußersten Ende
von Dolores. Und ein anderer Gast nimmt ihren Platz die
Nächsten fünf Jahre ein. (Fortsetzung fqfciE j
s) Ms einem Tagebuch.
Von Elisabeth v. Heyking.
Am Allerseelentag strahlen gerade die Gräber der
Aermsten wre mit rieselndem Gold bedeckt. Soviel Kranze
und Strauße der billigsten Blumen, der grellgelben Tajetes,
wurden ihnen gebracht. Es leuchtet von weitem wie
gleißendes Goldgsschmeide, wie eingefangener Sonnen
glanz. Und auf all den kleinen Hügeln brennen Lichter,
lassen in chrem Schein die gelben Blumen noch blendender
schimmern. — Unter lautem Anrufen der Toten haben die
indianischen Leidtragenden die Gräber also geschmückt. In
schrille Wehklagen finb sie dabei ausgebrochen, und doppell
wild scheint solcher Schmerz, ungezügelt aus ihrer sonstigen
Stumpfheit kommend. Allmählich geht das Schreien über
w bin Gemurmel, sie erzählen den Toten von den Ge-
m)bhnissen, die das Jahr der überlebenden Sippe brachte.
Dann lagern sie sich, packen ihre Eßwaren aus und ver
gessen beim eigenen Schmausen nicht, von allem auch den
Toten ein paar Bissen hinzulegen. — Mittag ist es ge
worden. Am Horizont stehen die beiden Schneeriesen wie
blasse Schemen im Dunste. Drunten in der Stadt ver
schwimmen alle Umrisse. Jede Greifbarkeit verflüchtigt sich.
Die unzähligen Kirchen mit den glitzernden Majolikakuppeln,
die vielen verschnörkelten Türme lösen sich auf im
flimmernden Lichte, sind nur noch ein Meer blendender
Farbentupfen. Und aus all der zerfließenden, verhusckenden
Buntheit braust plötzlich ein Sturm von Tönen empor Der