© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 20
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aus
Unterhaltungsbeilage der Täglichen Rund
schau, Nr.3, 4,5, 1919, Jan. 4-7, S. 1
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Mus einem Tagebuch.
Von Elisabeth v. Heyking,
Berlin, am Totensonntag 1917.
Nun hin ich wieder einmal in Berlin, das ich lange ge
mieden habe, weil ich mich fürchtete vor der Leere, die es,
trotz all seiner Menschen, für mich bedeutet. An die Ein
samkeit daheim bei mir auf dem Lande, an die öde ge
wordenen Gänge und Säle des alten Schlosses habe ich mich
in schmerzlichen Jahren allmählich gewöhnt — hier aber
artebe ich es von neuem, wie eine Art Ueberraschung, daß
alles auf Erden für mich anders geworden. Das Alleinsein
will eben an jedem Ort neu gelernt sein. — Die Erinnerung
an Früheres ist hier so frisch, tritt mir so überwältigend ent-
gen, daß alles, was damals war, lebende Wirklichkeit
nt. Das Jetzige ist dagegen fremd und blaß. Es hat
as von einem Traume, bei dem man im Träumen weiß,
daß es nur ein Traum ist. In manchen Straßen und Plätzen
fühle ich entschwundene Gegenwarten so deutlich neben mir,
daß ich die Hand danach ausstrecke, ich glaube verstummte
Stimmen zu vernehmen und höre den vertrauten Schritt
von Füßen, neben denen ich so manches Jahr gegangen.
Ganz deutlich unterscheide ich im Gedränge der vielen Eilen
sen die zwei Rhythmen, an die ich wachend und träumend
denke. Schritte sind dabei, die ich zuerst vernahm, als sie
!ung, kräftig und weitausholend waren. Schicksalsgelenkt
kamen sie von fernher, neue Heimat und zugleich mich zu
finden, rissen mich mit sich, daß ich ihnen folgen mußte, selig
ihrem Schwung mich anzupassen, sicher von ihnen zu lichter
Höhe geleitet zu werden. Aber müde und unsicher hörte
ich sie neben mir werden, stützende Lenkerin mußte ihnen die
Geführte werden, bis sie bann mählich ganz erlahmten und
rch weitem Wandern Rast und frühes Endesziel fanden,
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nach
daheim
bei mir in der
frühes
avelle des alten Schlos
schuhchen, steckten in derben Knabenstiefeln, zerbeult meist
durch allerhand SrM und wagefrohes Klettern: doch die
Zeit des Spielens schwand; in Reih und Glied marschierten
die jungen Füße, marschierten hinaus in Feindesland. Und
ruhen nun schon — auch sie. Nicht wie die anderen in der
heimatlichen Kapelle, nein, draußen in fremder Erde, Gott
allein weiß wo, in unbekanntem Grabe, das keiner mir
weisen kann. — Aber ich weiß bestimmt: sollte ich je ver-
- haltenen Atems dort gehen, leise tretend auf jenem kampf-
zerwühlten Boden, so würden meine Füße zusammen
rücken an der Stelle, wo jene nun liegen, und ich würde es
Men: hier knie nieder!, hier weine dich ausl —
Manchmal will mir scheinen, auch nur den Ort zu
kennen, wäre doch schon ein Trost. Und ich beneide jene,
die wenigstens dus Grab ihrer Gefallenen schmücken dürfen.
— Gerade in dieser letzten Woche vor dem Totensonntag
sah man hier so viele Schwarzgekleidete vor den Blumen
läden stehen. Da lagen hinter den großen Scheiben die
Kränze aus den Blumensorten, die vor Kälte wohlgehütet
werden müssen — die bleichen, getriebenen Maiblumen mit
ihren winzigen Totenglöcklein, die stillen, frommen Lilien,
die prunkenden Chrysanthemen und geheimnisvollen
Orchideen. Aber außer diesen zarten, rasch vergehenden,
gab es da auch andere Kränze, aus widerstandsfähigeren
Pflanzen gewunden. Metallisch glänzende Mahonien
blätter, Weymutskiefer und Blautanne, Efeu und Weiden
kätzchen. Und diese härteren Kränze lagen nicht nur hinter
den Fensterscheiben, sondern hatten sich vor den Läden noch
weit in die Straße geschoben. Die Symbole der Trauer
quollen wie selbstvedtändlich über in das Getriebe de«
Tages, weil ja für so viele Leben Trauer der eigentliche
Inhalt der Tage geworden. Und zwischen all den Kränzen
standen wägend und wählend die vielen Schwarzgekleideten,
frugen nach den Preisen, überlegten — denn ach, wie osr
ist doch der Schmerz weit größer als der Geldbeutel, und es
muß auch an den Toten gespart werden. Ich habe da in
bringen „ , . . . ..
nicht.. Einmal gelang es mir schnell genug, die
iß begehrten Blumen im Laben zu kaufen, um sie der mit
iriaen Augen draußen noch immer Darrenden zu