Full text: Zeitungsausschnitte über Herman Grimm

© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 9 
aus 2 
Beilage zum Kleinen Journal, Berlin 
Nr.8 1898, «Jan.9 
- Hern,an Grimm, der allen Glückwünschen zu seinem 
70. Geburtstage aus dem Wege gegaugen war, konnte sich doch 
nicht der spontanen Huldigung entziehen, die seine Schüler ihm 
bereiteten, als er am Morgen des gestrigen Sonnabends zum 
ersten Mal nach den Ferien wieder den Hörsaal betrat. Dieser 
war mit Blattpflanzen und Palmen geschmackvoll dekorirt und eine 
gewaltige Menge von Hörern füllte den weiten Raum. Nicht 
enden wollte die studentische Ehrenbezeugung, dieser kräftige und 
andauernde Wirbel, den die Füße vollführen. Durch einen Win! 
verschaffte sich Herman Grimm Ruhe, und sich verbeugend, sagte 
er: „D a 8 Alter hat sich vor der Jugend zu ver- 
neigen." Er griff hierauf nach einer großen rothen, mit einem 
Monogramm geschmückten Mappe, der von Collin aus 
geführten Adresse seiner Schüler, und betonte, welche Freude 
ihm gerade dieses Geschenk an seinem 70. Geburtstag bereitet 
hätte. Er las sodann den Schlußsatz der Adresse vor, der ihm 
eine besonders hohe Befriedigung gewährt hätte; der Satz lautet: 
„Wir alle vereinigen uns heut in dem Wunsche, daß es uns noch 
lange vergönnt sein möge, aus Ihrem eigenen Munde die Lehren 
zu vernehmen, denen die Menschheit tiefe Einblicke in die Geschichte 
ihres geistigen Werdens verdankt." Er habe an seinem 70. Geburts 
tag verglichen, wie Goethe und wie Jakob und Wilhelm Grimm 
diesen Tag verlebt hätten. Die Letzteren ignorirten ihren 
70. Geburtstag fast völlig, nur zu Tisch fanden sich zwei oder drei 
Freunde ein. Herman Grimm fuhr fort, daß G oethe's Tage 
bücher für ihn eine Art Abreißkalender bedeuteten, da er an einzelnen 
Tagen seines Lebens gern nachsehe, wie Goethe den entsprechenden 
Tag verbracht habe. Goethe war am 29. August 1819 auf der 
Reise und notirt in sein Tagebuch: Wolkenbcobachtungen und 
Mineralogisches. Von seinem siebzigsten Geburtstag ist nicht weiter 
die Rede. nur am Schluß des TageS heißt es; „Biographica 
vorgenommen und gearbeitet" Goethe hat also der Bedeutung des 
Tages entsprechend auf sein vergangenes Leben zurückgeblickt. So 
er kenn auch gethan. Grimm ging von den „vrelen 
schonen Zeitungsartikeln" aus, die ihm an diesem Tage gewidmet 
waren, und da machte es ihm denn einen wunderbaren Eindruck, 
sich als eine abgerundet» Persönlichkeit vor sich zu sehen. AkM, 
rch mem Leben betrachte", so fuhr er in einer Art von Selbst- 
bekenntmß fort. „so sieht es völlig anders ans. Alles, was sich 
mir zudrängte, blieb Fragment, uud die Arbeiten, die entstanden, 
genügten mir in keiner Weise. Alle meine Schriften scheinen 
Launen ihren Ursprung zu verdanken. Als ich den Michelangelo 
schrieb, wollte der Buchhändler die Idee. den Verlauf des Werkes von 
mtr erfahren: ich wußte nicht, war daraus werden würde." Nachdem 
Gnmm weiter in reizvoller Weise von dem Werden seiner Werke 
gesprochen, dankte er noch einmal dem Auditorium und wünsch.e 
allen seinen Hörern, daß sie ein gleiches Alter wie er erreichen 
mögen. Er fuhr sodann in seiner Vorlesung fort und gab eine 
glänzende Charakteristik Herders, wobei er mit Worten größter 
Anerkennung der Bemühungen S u p h a n 'S um das große Herder- 
Werk gedachte.
	        

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