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© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 9
wohnten sic neben einander dort in jenem
Quartier, wo so viele von der Berliner
Stoa wohnten und noch wohnen. Vor fünf
Jahren, als ich selbst mehrere Wochen in
der Nähe jener Matthäikirche verbrachte, die
Gottfried Keller wegen ihres styllosen, un
künstlerischen Baues in einem Gedichte recht
scharf hernahm, wohnten dort Ludwig
Vamberger (einige Schritte um die Ecke in
der Margarethenstrahe), Julius Rodenberg,
Adolph Kirchhofs, der Hellenist; Erich
Schmidt, der Germanist; Ernst Curtius,
Hermann Grimm. Stiller Friede lag über
diesem Viertel, wo sich diese hervorragenden
Gelehrten ihren Gedanken und Forschungen
hingaben.
Als ich an einem heißen Sommertage
Grimm's kühle Wohnung im dritten Stock
werke betrat, rief ich aus: „Wie in einem
Atelier!" Das nahm er mit den Worten
hin: „Doch nicht solche Unordnung!"
Nein, Unordnung war ihm fremd. Ich
hgtte nur auf das Künstlerische angespielt.
Es war in der That außerordentlich stim
mungsvoll bei ihm. Er führte mich vor ein
Goethe-Bildnis, gemalt nach dem Leben,
dann vor eine Goethe-Todtenmaske. Es
waren Reliquien, die.ihm zum Theile sein
Vater Wilhelm, sein Onkel Jacob Grimm
hinterlassen, zum besten Theile aber aus
dem Besitze von Hermann Grimm's Ge
mahlin Gisela, einer Tochter der berühm
ten Bettina v. Arnim. Und dann zeigte er
mir Landschaftsbilder an den Wänden,
gemalt von Freiherrn v. Gleichen-Ruß-
wurm, einem Enkel Schiller's, Vater jenes
jetzt in Rom lebenden Schriftstellers, den
wir in den letzten Jahren wiederholt in
Wien zu begrüßen Gelegenheit hatten.
Und dann machte Grimm — es war eben
nach seines Freundes Curtius Hinscheiden
— melancholisch die Bemerkung: „Wenn
bitt, so soll all' das nach
Weimar wandern, meinen letzten Bestim
mungen zufolge den Goethe-Sammlungen
einverleibt werden."
Wir werden ja bald von Grimm's Te
stament hören und bald wissen, ob die Kost
barkeiten aus einer klassischen Vergangen
heit, die ich damals bei ihm bewundern
durfte, nun wirklich den Weg nach dem
von ihm so geliebten Weimar nehmen wer
den.
Er fühlte sich der alten klassischen Zeit
von Weimar näher als der neuen, in Waf
fen klirrenden von Berlin.
Grimm war in Kassel geboren, aber in
Berlin hatte er den größten Theil seines
Lebens hingebracht, dreißig Jahre davon
als Lehrer an der Universität. Doch das
Familien-Milieu, in dem er aufgewachsen
war, hatte ihn mit dem Heroen-Zeitalter
der Literatur verknüpft. Die beiden
Grimms, Wilhelm, sein Vater, und Jacob,
sein Onkel, standen nicht nur geistig, son
dern auch persönlich mit Goethe in Berüh
rung. Und .Hermann Grimm's Gemahlin
war Gisela v. Arnim, die Tochter Bet-
tina's. In Bettina's Hause war aber
Goethe als Gott verehrt, als Großer und
Einziger.
Um zwölf Jahre war die Gemahlin Her
mann'-, Gisela, ihrem Manne im Tode
vorausgegangen. Im April 1889 war sie
in Florenz aus dem Leben geschieden. Mit
ihr hatte Hermann ein gutes Stück seiner
selbst begraben. Bettina's Tochter war
eine eigenthümliche Erscheinung. Sie hielt
vor Allem auf das Urwüchsige der Persön
lichkeit. Ueberkultur war ihr zuwider.
Bettina's Tochter schrieb — unorthogra
phisch. Ich hörte Manchen darüber klagen.
„Sie posirt," sagte man. Und dabei ver
suchte sie sich in Dramen und auch Roma
nen.
Auch Hermann Grimm hatte Gefallen
an solchen unverkünstelten, wie ein Natur
laut hervorbrechenden Dichtungen. Er
lenkte mit Entzücken die Aufmerksamkeit
auf Johanna Voigt, das ostpreußische Na
turkind in Großwersmeningken bei Las-
dehnen. Als Johanna Ambrosius ist diese
Dichterin heute weithin bekannt, und Auf
lage nach Auflage hat sie erlebt. Der
Preßburger Literatur-Professor Karl Weiß
(unter dem Pseudonym Schrattenthal
schreibend) hat auch für Johanna Ambro
sius Propaganda gemacht. Vielleicht
brachte dies ihn mit Grimm zusammen.
Irre ich nicht, so war es auch dieser
Preßburger Schriftsteller, der eines Tages
einen armen verwachsenen jüdischen Lehr
amtskandidaten aus Ungarn an Grimm
empfahl. Dieser fand Gefallen an dem
bescheidenen, kränklichen Menschen mit dem
gedrückten Wesen. Er führte ihn bei Keu-
dell, dem berühmten Diplomaten aus Bis-
marck'scher Zeit, ein, in dessen Familie
Grimm freundschaftlichst verkehrte. In
dem sehr musikalischen Hause Keudell hatte
der ungarische Kandidat, dessen Name mir
entfallen, die Freude, einem Landsmanne
zu begegnen, der es in der Welt herrlich
weit gebracht. Es war Joseph Joachim,
der in dem kleinen Neste Kittsee bei Preß-
burg das Licht der Welt erblickt hat.
Der verwachsene Student aus Ungarn
sollte nicht lange die schönen Tage von
Berlin überleben. Bald nachdem er in die
ungarische Heimath zurückgekehrt war,
starb er, und mit Rührung nahm Hermann
Grimm die Todesnachricht entgegen. Der
Biograph Michelangelos, Rasfael's und
Goethe's hat ihm einige rührende Zeilen
in der Berliner „National-Zeitung" ge
widmet.
Von Allem, was Grimm geschrieben, hat
mich nichts so ergriffen, wie die Worte des
Abschiedes au den armen Schützling aus
dem Ungarlande.
. Da zeigte sich die Regung des Herzens
tn einem Manne von Geist.
jf? Sigmund Münz.