© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 9
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Die Gegenwart.
Nr. 27.
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ihm über den Zeiten, in denen sie lebten. Sie hatten die
Zeiten, nicht die Zeiten sie gemacht. Grimm ist ein Helden
verehrer, doch nicht einer, der die Augen schließt vor dem
Allzumenschlichen, das auch den Helden anhaftet. Er nimmt
die Helden als Menschen, er streut nicht vor ihren Bildern
Weihrauch, so daß in den Wolken schließlich ihre Umrisse
verschwimmen. Er ist kein Carlyle. Trotz aller Verehrung
und Liebe, die er für sie hegt, ein wenig skeptisch tritt er
ihnen gegenüber. Er lächelt wohl: „Seid Ihr wirklich so ge
wesen, wie man Euch kennt?" Er weiß, auch die Sonne hat
Flecken, aber thut das wirklich ihrem Glanze Abbruch?
Die großen Persönlichkeiten sind ihm die geistigen Höhen
der Menschheit, zu denen man emporstreben muß. Wie Jemand
sich zu Goethe verhielt, das war ihm wichtig, das war für
ihn ein Maßstab. Weil er nur ein Auge für die Höhen
hatte, streiften seine Blicke nur flüchtig die Niederungen, durch
die er wandern mußte, um zu den Bergen zu kommen. Was
in den Thälern an seltneren Blumen duftete, an Blüthen-
bäumen stand, übersah er fast vor den Kronen der Gebirge,
von denen man so weit zurück und vorwärts in die Lande
sehen konnte. Hier oben wehte eine reinere Lust, hier weitete
sich die Brust, und hier oben schien Alles dort unten in den
Niederungen so klein und unbedeutend. Für Hermann Grimm
scheint eine historische Entwicklung der Dinge nicht vorhanden
zu sein. Auch die Großen der Erde sind mit einem Male
da, sie sind gleich groß, sowie sie vor uns erscheinen. Sie
scheinen niemals irgendwo auf der Gasse als Kinder gespielt
zu haben, als Knaben in die Schule gegangen zu sein. Grimm
sieht sie immer zur Zeit ihrer höchsten Kraft, gleichsam im
Spätsommer ihres Lebens, noch vom Blüthenduft umschwebt
und schon mit reifen Früchten geschmückt. Der Lenzessonne,
deren warme Lichter auf den jungen Kronen gespielt, des
Sommerwindes, der über das volle Laub ging, gedenkt er
so nebenher; die Zeit, da aus den Blüthen Früchte geworden,
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als die wichtigste.
Wie sie waren und was sie uns bedeuten, hat er so oft
gefragt Angesichts der irdischen Großen. Wie er war, was
er uns bedeutet, fragen wir, nun er nicht mehr ist. Er war
ein feiner Mensch, vornehm in Gesinnung und Gebühren,
vom Kopf bis zum Fuß ein Gentleman; begabt mit dem
tiefsten Verständniß für die Größe und Schönheit der Kunst,
die ihm die Blüthe des Lebens war; ein Mann, dessen
Fähigkeit nachzuempfinden auf's Höchste ausgebildet war;
kein Fachgelehrter, sondern ein reproducirender Künstler.
Romantik von heute.
Von Max Aemxff.
Wolkenballen hängen über dem Canal. Die Platanen,
deren gefiedertes Laub sich so zärtlich der Sonne entgegen
zurecken pflegt, frieren im kalten Ost, schütteln sich unbehag
lich und haben alle koketten Launen vergessen. Es hätte auch
keinen Zweck, den schön blank leuchtenden Stamm und das
graziöse Geäst, das Spiel der tänzelnden Blätter heut in den
Wassern zu bespiegeln, denn die Wasser sind stumpf und todt.
Eintöniges Grau, wie von Bleiklumpen, die lange halbver
gessen in Regen und Wind gelagert haben.
Sonst sind die Spaziergänge am Ufer um diese Stunde
reich belebt. Kinderfräulein in Roth, Blau und Weiß, mit
weiß, blau, roth herausgeputzten Mädeln und Bengeln; kurze
Röckchen und weite Janker; fröhliche Greise, die nach den ge-
sundbäckigen Fräulein schauen und sie immer wieder in Ver
legenheit setzen durch die alte Frage, ob das reizende Kleine
im Wägelchen ihr eigenes sei. Mein Bankier — ich nenne
ihn den meinigen, weil er im selben Hause mit mir wohnt;
aus keinem anderen Grunde — geht just zur Börse. Es
freut mich immer von Herzen, wenn er in all' die funkelnde
Frühlingslust verbissen, überarbeitet, übernervös hineinstarrt,
denn Disconto-Commandit werden an solchen Tagen um
mehrere Procent nachgeben, und die Rettung der Casseler
Treber-Gesellschaft ist wieder fraglich geworden. Sobald er
um die Ecke hastet, wird es auf dem Balcon tief unter mir
lebendig. Dann holt die stattliche Schwarzhaarige gelbe
Romanbünde hervor und paßt auf, ob ich ihr gelbe Rosen
auf den Kopf werfe. Meist treffe ich sie, denn der Balcon
liegt, wie gesagt, unter meinem Fenster, und ich habe, ehe
ich die Blumen fallen lasse, nur nöthig, den Winddruck in
Rechnung zu stellen, der der Schwerkraft Abbruch thut. Dar
nach richtet sich das Maß von Energie, womit ich die Marächal
Niel in die Tiefe werfe. Verirren sollen sie sich nicht, und
sie sind weder für die verwittwete Geheime Canzleirath, noch
für den zum Generalstab abcommandirten, ernsten Haupt
mann bestimmt. Gottlob, daß er von Disconto-Commandit
so wenig wie ich versteht. Sonst...
Am farb'gen Abglanz haben wir das Leben.
Heute fft keine Farbe in der Welt. Kein Weiß, Roth,
Blau oder Schwarz. So recht ein Tag, um sich mit Roman-
figuren die Zeit zu vertreiben, da die Romanfigur der jungen
Schwarzhaarigen ja doch nicht zum Vorschein kommt. Lassen
wir die gelben Rosen bei Seite, greifen wir wie die Schwarz
haarige zu den gelben Bänden.
*
Arthur Schnitzler, dessen „Schleier der Berenice" ein
vortreffliches Drama sein muß, denn kein Berliner oder
Wiener Theaterdirector will es spielen, Arthur Schnitzler hat
zum Entgelt dafür einen minder guten Roman geschrieben.
„Frau Bertha Garlan" heißt er und ist natürlich S.
Scheie Verlag. Die amtliche Gründung Jung-Wiens hat
auf Schnitzler keinen günstigen Einfluß ausgeübt. Er hält
seine Position jetzt für gesichert und bemüht sich nicht mehr
strebend. Während er im „Anatol" ein Eigener war, Jemand,
der zwar keinen größeren Melodienvorrath besitzt, aber mild
sonnige Weisen schmiegsam und klug zu instrumentiren ver
steht; während er in „Freiwild" und dem schwächeren „Ver-
müchtniß" ernsthaft erotische Probleme zu lösen versucht
und im „Grünen Kakadu" kecken Wurfs sein Bestes aus
spielte und ein Mann zu sein trachtete, statt des phäakisch
geistreichelnden Lebejünglings, den er bis dahin markirte —
während er bis hierher an sich selbst und seinem Werk ar
beitete, beginnt er in dem Roman von der Dame Garlan zu
faulenzen. An und für sich sind Schnitzler's Liebesaffairen
herzlich eintönig. Immer das süße Mädel, das ihm zur
Strafe nun auch der ewige Stil- und Novitätenhascher Wol-
zogen in greulichem Ueberbrettl-Stumpfsinn bedichtert hat;
immer die wehrlose Sehnsuchtsvolle, die liebt und giebt und dann
still zu Grunde geht. Frau Bertha sieht den Jugendfreund
wieder, nachdem sie aus der Nüchternheit ihrer Ehe glücklich
befreit ist. Er hat zehn lange Jahre besser genutzt, denn sie
und ist ein Anderer geworden, als sie träumte. Künstler und
Lebenskünstler, den weder Skrupel noch Zweifel plagen. Seine
dröhnende Berühmtheit entschließt sich gnädig, die hingebende
Schmachtende für eine Nacht oder zwei an's Herz zu nehmen.
Eigentlich wird sie sein Eigen, ohne es zu wollen und recht
zu begreifen. Und schaudernd erkennt sie dann, daß das
flammende, unerhörte, centrale Glück ihres Lebens ihm ein
beiläufiges Abenteuerchen wie andere mehr gewesen ist. Und
sie muß Gott auf den Knien dafür danken, daß es ihr
wenigstens nicht so schlimm ergangen ist, wie der jungen Frau
so und so; daß sie sich in Heimlichkeit, ohne daß die Welt
Witterung bekam und Scandal schlug, aus der bittersüßen
Heimlichkeit zurückziehen konnte.
Schnitzler spielt gemächlich mit seinem Stoffe, dreht und
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