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Die Gegenwart.
Nr. 27.
dankliche Reconstructionen haben stets nur hypothetischen
Charakter, wenn sie auch dem Denken als Postulate er
scheinen mögen; denn sic sind der Natur der Sache nach
niemals empirisch beweisbar. Es kommt nur darauf an, die
dem Einheitsbcdürfniß der Vernunft am besten entsprechenden
(d. h. wahrscheinlichsten) Hypothesen auszuwählen und dadurch
von bloß vorläufigen zu bleibenden Hypothesen zu gelangen.
Der Uebcrgang von den übrigen Wissenschaftsgebieten zur
Metaphysik ist dabei ebenso stetig wie für das Denken un
vermeidlich. In der theoretischen Naturwissenschaft hat die
Deduction (als mathematische) einen gewissen Platz, in der
Psychologie hat sie keinen; hier ist vielmehr ausschließlich die
Jndnction brauchbar. So ist Wundt's Bestreben wesentlich
darauf gerichtet, das philosophische Denken ans dem Banne
der Naturwissenschaften und ihrer naturalistischen Weltan
schauung zu den Geisteswissenschaften und zur Metaphysik
und zwar zu einer spiritualistischen Metaphysik zurückzuführen.
(Ein Schlußartikel folgt.)
Literatur und Kunst.
Herman Grimm.
Von Alfred Seinerau (Charlottenburg).
In der Sonntagsfrühe des sechzehnten Juni ist Herman
Grimm nach kurzem Krankenlager verschieden. Obschon alle,
die ihn kannten, wußten, daß körperliches Ungemach ihn oft
der gewohnten geistigen Thätigkeit fern halte, kam ihnen seit,
vlöl'licber Tod doch unerwartet. Der Dreiundsiebziaiähriae
hätte noch ;eükn hvtM, ynjUlnTl'u Körper fv mngeveugr rnockc
der Last der Jahre getragen, die Augen hatten noch so
jugendlich frisch geblickt, daß man darüber fast die weißen
Haare vergaß, die schlicht aus der hohen Stirn zurückgestrichen
waren, und den weißen Bart, der das durchgeistigte Gesicht
umrahmte. Und kaum glaublich schien, daß dies so feste
Leben nun geendet. Die Beschwerden des Alters hatte Herman
Grimm fast mühelos und mit Humor getragen als allge
meines Menschentoos. Er fühlte sich noch jung genug, um
eine Weile ein stiller, halbverborgener Zuschauer der Dinge
dieser Welt sein zu können, er hatte sich noch bis in das
hohe Alter eine jugendliche Aufnahmefähigkeit belvahrt. Mit
lebendiger Theilnahme betrachtete er das Neue, slichte es zu
verstehen und sich zu eigen zu machen. Wohin er seine Augen
richtete, überall sah er nur Gewinn. Er wußte nicht, wes
halb Andere den Mangel an inneren! Frieden, den Verlust
an äußerer Ruhe betrauerten und für unersetzlich hielten. Er
theilte auch die Besorgniß nicht, daß geistige Güter verloren
gehen könnten. Die Freiheit, die wir sicher hätten und die
immer noch anwüchse, meinte er, trüge jede Art von Selbst-
correctur in sich. Ihm standen Entwicklungen der Mensch
heit vor Augen, die, wie er wußte, mitzumachen ihm versagt
sein würde, die ihm aber als so glänzend schön erschienen,
daß er um ihret Willen das Dasein noch einmal wohl hätte
beginnen mögen. '
Herman Grimm ist als der Letzte von denen dahin ge
gangen, die um Goethe waren. Wohl hatte er Goethe nicht
gesehen, war er erst doch ein Vierjähriger, als jener starb,
aber sowohl seine Familie als auch die, aus der er sich später
die Tochter zur Frau nahm, pflegten das Andenken Goethe's
als das eines zu ihnen Gehörigen. Goethe war ihr geistiges
Familien-Oberhaupt, vor dem sie sich Alle beugten. In dieser
Atmosphäre wuchs Herman Grimm heran. Im Hause seines
Vaters Wilhelm, des Märchenerzählers, und seines Onkels
Jakob, des Sprachforschers, fanden sich alle Männer und
Frauen zusammen, die geistig irgend etwas bedeuteten in der
preußischen Hauptstadt. Früh schon lernte er die Größen der
Kunst und Wissenschaften kennen. Seine Studienjahre in
Berlin und Bonn widmete er der Jurisprudenz, dann aber
begannen ihn andere Dinge als die trockene Rechtsgelehrsam-
keit zu fesseln. Er glaubte, daß in ihm eine dichterische
Kraft verborgen sei, die, nachdem er sie eine Zeit laug nicht
beachtet und zurück gedrängt, jetzt energisch nach Bethätigung
verlange. Während zweier Jahrzehnte nun versuchte er sich
ans dem Gebiete der Dichtkunst. Aus dieser Beschäftigung
mit poetischen Dingen erwuchsen ihm zwei Dramen, ein
Novellenband, eine kleinere Dichtung und ein großer zweibändiger
Roman. Seit dem Jahre 1867, wo der letztere veröffent
licht wurde, hat er nichts Poetisches mehr geschrieben oder
wenigstens heraus gegeben. Alle seine Dichtungen sind für
uns heute verschollen bis auf die Novellen, deren eine „Das
Kind" Paul Heyse in den deutschen Novellenschatz auf
genommen hat. Eine starke Dichterpersönlichkeit voller Eigen
art ist Herman Grimm nicht gewesen, und die Novellen ent
halten das Beste, was er als Poet geben konnte, zarte
Stimmungsmalerei und eine feine Charakterzeichnung: seine
Menschen erscheinen uns in den leisen Umrissen, welche der
Silberstift giebt.
In den letzten Jahren seiner dichterischen Bethätigung
aber hatte sich Grimm bereits der Kunstbetrachtung zu
zuwenden begonnen, der' Betrachtung und Erforschung der
Kunst im uinfassenden Sinne. Er mochte wohl gefühlt habe»!,
daß es ihm nie gelingen würde, als Dichter eine hervor
ragende Stellung einzunehmen; darum wandte er sich einem
Gebiete zu, auf dem alle seine Fähigkeiten zu schöner
Geltung kamen. Er empfand vielleicht, daß ec kein produc-
tiver Künstler sei, aber ein reproducirender. Später hat er
einmal selbst erzählt, wie sich bei ihm das Interesse für die
Kunst zuerst geäußert habe und wie er mit ihr sich näher
vc,us,cn yabe. hat'ihm zuerst ein
starkes Gefühl für die Kunst eingeflößt. Von Kind auf hatte
er vier Madonnen des Meistert vor Augen, in seines Vaters
Zimmer die Dresdener Sistina, bei seiner Mutter „Die schöne
Gärtnerin", die Jungfrau im Grünen, die Madonna della
Sedia in Stichen von Müller, Desnoyers und Agricola. Diese
Bilder sah er als Etwas an, ohne das die Welt nicht zu
denken sei, und sie prägten sich ihm so tief ein, daß auch
später, wenn ihrer eins genannt wurde, ihm nicht das Original,
sondern zuerst der Dtich vor die Seele trat. Er erinnerte
sich der Verwirrung, in die ihn der erste Anblick der wirk
lichen Madonna Raphaels in Dresden versetzte; etwas ihm
durchaus Vertrautes stand plötzlich in ganz anderer Gestalt
vor ihm und er hätte, wenn man ihn um ein Urteil gefragt,
dem Stiche den Vorzug gegeben, denn er kannte jede
Schraffirung darauf und hielt die sich kreuzenden Linien für
eine nothwendige Eigenschaft des Werkes. Wenn er zusammen
rechnete, was in den Wohnungen seiner Familie und ihrer
Freunde an Werken Raphaels in Stichen vorhanden war,
so konnte er behaupten, im Anblick der gesammten Thätigkeit
des italienischen Meisters aufgewachsen zu sein. BeiHomeyer's,
die neben Grimm's wohnten, hingen die vaticanischen Fresken,
bei Gerhard's Angelo doni und seine Frau, die Farnesina
und viele Madonnen. Alle diese Stücke kannte er genau, so
wenig lag aber damals die herrschende chronologische An
schauung in der Luft, daß ihm nicht einfiel, diese Werke als
Resultate einer Lebensentwicklung anzusehen, deren fehlende
Theile gesucht werden müßten. Er hörte auch nirgend von
Raphael sprechen; eingepflanzt war ihm nur, diese Dar
stellungen als das Vornehmste im Bereiche der bildenden
Kunst anzusehen. Die Raphael zugeschriebenen Gemälde des
Berliner Museums, auch die Teppiche erweckten seine Theil
nahme nicht.
Erst Guhl's Künstlerbriefe gaben Herman Grimm den
Anstoß zu einer anderen Betrachtung der Dinge; in diesen
Nr. 27.
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Die Gegenwart.
Briefen erst wurde persönlicher Zusammenhang der Werke
und ihrer Urheber sichtbar; hier las man, wie die großen
Künstler gedacht hatten, wie das Leben sie erzog und formte,
wie ihre Werke sich als Producte ihrer Existenz erklären ließen.
Guhl zeigte aber auch gleichzeitig, wie man diesen Dingen
selbständig weiter nachforschen könne. Die von ihm citirten,
wenig zahlreichen Bücher standen in der königlichen Bibliothek,
in deren letztem obersten Winkel sich nun Grimm in voll
kommener Einsamkeit installirte und nicht eher ruhte, als bis
er in der dort aufgestellten Literatur zu Hause war, um die
sich sonst damals fast Niemand kümmerte. Dazu bot das
königliche Kupferstich-Cabinet die nöthige Ergänzung. Nach
dem er sich so für das Kunststudium ohne alle Anleitung
vorbereitet hatte, kam er Ende Mai 1857 znm ersten Mal
in das von den Franzosen besetzte Rom Pius IX., das da
mals noch völlig in sich versunken und von keiner Eisen
bahn berührt war. Die heißen, erst Abends sich belebenden
Straßen lagen verlassen, wenn er Morgen für Morgen im
schmalen Schatten der Häuser sich haltend zum Vatican
pilgerte, wo er die unendlichen Treppen hinaufstieg und die
mauerkühlen Gänge durchwanderte, zu denen ein leiser Duft
der im päpstlichen Garten blühenden Orangen drang. An
manchen Tagen begegnete er keinem Menschen auf dem Wege
durch den ganzen Palast. An der Thür, zu der er wollte,
wurde der Custode durch langsam verhallendes Geläute herbei
gelockt, der ließ ihn ein und ging wieder. Lange, ungestörte
Stunden brachte dort und in der Farnesina, die ebenso ver
lassen dalag, Grimm zu. Allmählich lebte er sich in Raphael's
Werke ein, um endlich zu wissen, was er sähe, „und nicht
so schnell wird dies Wissen erlangt," sagte er als reifer Mann.
Abends, wenn er wieder in seiner Stube auf dem Capitol
saß, schrieb er nieder, was er Tags über gesehen, aus der
Erinnerung beschrieb er die Gemälde.
Als Autodidakt also, da es ja damals in Deutschland
„och feine Knttsthjstoriker ga6. sondern nur einige sich mit
Kunst befassende Bücher, bildete sich Grimm zur Kunst
betrachtung heran. Von Raphael kam er zu Michelangelo,
zu den antiken Sculpturen. Schritt für Schritt drang er
vor, langsam in das ihm unbekannte Land der Kunst, in
dessen jeder Provinz er sich so lange aufhielt, bis sie ihm
in ihrem Reiz, ihrer Eigenart vertraut geworden war. Dann
zog er in die nächste, um diese genau zu studiren, bis er im
Lause eines langen Lebens im ganzen Lande gewissermaßen
zu Hcmse war. In dem Roman Grimm's „Unüberwindliche
Mächte" spielt ein alter Herr eine kleine Rolle. Dieser alte
Herr war Student gewesen, so heißt es in seiner kurzen
Charakteristik, hatte 1815 mitgekämpft, dann als Officicr bei
der Zurückführung ^ der geraubten Kunstschütze mitgewirkt,
wobei sich ihm zuerst die Kunst aufgeschlossen, wollte hinter
her Maler werden, übernahm jedoch nach seines Vaters Tod
dessen Buchladen, wobei er seine Liebhaberei fortsetzte, und
gab sich ihr, nachdem ihm in seinem Sohn ein Geschäfts
nachfolger herangewachsen war, ganz und gar hin. Als Auf
gabe hatte er sich gestellt, Alles persönlich zu untersuchen, was
Europa an Kunstwerken beherbergte. Durch den Ernst, mit
dem er diese Beschäftigung auffaßte, nahm es seiner umher
fahrenden, unstäten Existenz den Schein des Launenhaften,
Nnnöthigen, den sie, oberflächlich aufgefaßt, hätte annehmen
können. Er hatte sich ein Amt erwählt in seiner Thätigkeit,
das er gewissenhaft verwaltete. Er betrachtete die bildende Kunst
als eines der wichtigsten Weltmomente, und hielt die wenigen
Leute, die gleich ihm eine eigennutzlose Beaufsichtigung der
vorhandenen Werke zu ihrer Lebensaufgabe gemacht, für
Staatsdiener der höchsten Art, deren Verdienste, je unschein
barer unkn verborgener sie wirkten, um so weniger je nach
Würden und Gebühr anerkannt oder gar belohnt werden
können. Mit dem eben charakterisirten alten Herrn scheint
mir Hermann Grimm Aehnlichkeit zu haben, nur daß das Feld
seiner Thätigkeit bei Weitem größer war.
Grimm beschränkte sich auf die bildende Kunst, wenn er
auch nach oberflächlicher Betrachtung seines Lebenswerkes ge
rade ihr die meiste Zeit und Arbeit zugewandt zu haben scheint.
Er gehörte zu den universalen Naturen, die heute selten ge
worden sind oder überhaupt wohl nicht mehr existiren. Er
wußte in der Literatur und Kunst aller Völker und Zeiten
Bescheid. „Geh' durch die Welt und sprich mit Jedem," dies
Wort Firdnsi's scheint sein Wahlspruch gewesen zu sein. Er
suchte das Leben aller der Menschen zu erforschen, die für
ihre Zeit die Pegelhöhe des geistigen Zustandes bezeichnen, die
wenigen, aber die unverwüstlichen, welche die Jahrhunderte über
dauert haben und nach menschlicher Voraussicht überdauern
werden; die ewigen Apfelbäume, welche der ewig nachwachsenden
Jugend, so viel Früchte von ihnen abgeschüttelt werden, jeden
Morgen in vollen Früchten getreu wieder entgegenlachen. Die
Erforschung der Geschichte dieser Männer mußte seinem festen
Glauben nach unsere vornehmste naturhistorische Arbeit sein.
Seine ganze Lebensarbeit war der Beschäftigung mit den
Größten dieser Erde geweiht, mit beni Ergründen ihrer
Schöpfungen und ihrer Persönlichkeit. Das Werk langer Jahre
voller Fleiß sind die Denkmäler, die er Homer, Raphael,
Michelangelo, Goethe errichtet hat. Diese Vier hat er auf
ein hohes Piedestal gestellt, so daß sie allen Angen sichtbar
sind. Ihre Gestalten hat er gleichsam in ganzer Figur aus
geführt, wo die Haltung, Gesichtsausdruck, Führung der Ge
berden, Faltenwurf genau überlegt und mit feiner Künstler-
hand wiedergegeben sind. Alles an ihnen lebt und würde
man einem von ihnen heute auf der Straße begegnen, dann
dächte man, er lebte unter uns und mit uns und wir hätten
ihn nur noch nicht gesehen. Das macht, Grimm hat diese
Großen als moderner Mensch betrachtet, als Mensch, der
modern sieht und fühlt. Neben diesen vier in ganzer Figur
ausgeführten Denkmälern sind aus Grimm's Werkstatt noch
eine lange Reihe Büsten hervorgegangen, dem Gedächtniß
anderer Unsterblicher geweiht. Da steht Dante neben Vol
taire, Dürer neben Nembrandt. Und auch sie blicken uns
vertraut an und werden uns verständlich. Alles, was ihnen
nur so äußerlich anhaftete als Kindern ihrer Zeit, mangelt
diesen Büsten gänzlich; denn ein moderner Mensch hat sie ge
meißelt, dem es nur um den geistigen Gehalt ihrer Per
sönlichkeiten zu thun war.
Zwei Fragen - pflegte Hermann Grimm Angesichts der
Großen der Erde auszuwerfen: Wie waren sie, und was be
deuten sie uns noch? Was einem kleinen Kreise von Fach
gelehrten an diesen Menschen historisch merkwürdig und inter
essant war, das kam für Hermann Grimm neben seinen beiden
Hauptfragen gar nicht in Betracht. Er hielt die Leute, welche
Zeit ihres Lebens sich mit dem Anhäufen von Thatsachen,
mit dem Einsammeln von Materialen beschäftigten und ge
duldig ihre Jahre mit dieser Kärrnerarbeit hinbrachten, für in
ihrer Art ganz nützliche Individuen, denen auch eine gewisse
Existenzberechtigung zukam, aber mehr als „wissenschaftliche
Beamte" waren sie ihm nicht. Von der Genauigkeit und
Gründlichkeit, mit der die sogenannte exacte Forschung jedes
noch so unwichtige Factum untersuchte, hielt er nicht viel.
Die Beschäftigung mit Quisquilien schwächte die Augen nach
seiner Meinung so, daß sie schließlich keine Auffassung mehr
für das Ganze, Große hätten. Grimm verstand es gar nicht,
wie man nebensächlichen Dingen überhaupt eine große Auf
merksamkeit zuwenden könne. Die Goethe-Philologen, welche
mit raffinirter Gewissenhaftigkeit jedes I-Tüpfelchen eines
Waschzettels auf seine merkwürdigen Eigenschaften unter
suchten, blieben ihm räthselhafte Wesen. Wenn ein Mensch
weiter Nichts war als ein exacter Forscher, dann war er ihm
Nichts.
Grimm sah nur die Totalität einer Erscheinung. Er
untersuchte wohl die zeitlichen Bedingungen und Umstünde,
unter denen sie möglich geworden war, aber er legte kein
Hauptgewicht auf sie. Die großen Persönlichkeiten standen