Full text: Zeitungsausschnitte über Herman Grimm

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Nr. 27. Die Gegenwart. 7 
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lität des geistigen Wollens, der Apperception und der schöpfe 
rischen Synthesen, die sich bis zu den atomistischeff Urbestand- 
theilen des Jndividualwillens hinab erstreckt, andererseits die 
functionelle Abhängigkeit des Empsindens von den Sinnes 
eindrücken und des Handelns vom Wollen, und hinter ihr 
steht die teleologische Auffassung der Naturgesetze, die der 
causalen nicht nur gleichberechtigt, sondern mit Rücksicht auf 
den Gesammtzweck des Weltprocesses ihr übergeordnet ist. 
Die Anhänger der einseitig mechanistischen Weltanschauung 
müssen sich also von Wundt ebenso abgestoßen fühlen wie 
die Materialisten und Sensualisten. In dem Entwickelungs 
gedanken laufen alle Fäden dieses Systems zusammen, was 
in der Geistesphilosophie noch mehr als in der Naturphilo 
sophie hervortritt; aber 'Auch in der Letzteren hält Wundt die 
rein mechanischen Principien zur Erklärung der Zweckmäßigkeit 
für unzulänglich und erkennt an, daß die Wirksamkeit des 
Zweckes genau so weit reicht wie die des Willens auf allen 
seinen Jndividuationsstufen. 
In der Psychologie kommt es Wundt darauf an, gegen 
über dem reinen Sensualismus, der alle seelischen Gebilde 
aus bloßen Empfindungen aufbauen will, die Unentbehrlich 
keit formender, zusammenfassender und ordnender Geistes 
thätigkeiten (Kategorialfunctionen), gegenüber der reinen Vor 
stellungspsychologie die Bedeutung des Willens, gegenüber der 
Erklärung alles seelischen Geschehens durch bloße Associa 
tionen die Selbstthütigkeit des Subjects in der Apperception 
geltend zu machen. Die vom Bewußtsein mit dem Stoff der 
Anschauung zugleich vorgefundenen Formen deutet Wundt 
ähnlich wie Fichte, Schelling und Hegel als Ergebnisse eines 
Entwickelungsprocesses, in welchem die Denkthütigkeit sich 
Stufe um Stufe steigert, indem sie sich auf den sinnlichen 
Erfahrungsinhalt anwendet. Mit Recht betont er, daß Ge 
fühls- und Vorstellungsbestandtheile immer nur verbunden 
angetroffen werden, daß der Wille ohne Porstelluugsinhalt 
unbestimnrrcklnvAnwirtltch ist, daß aber dennoch die psychische 
Thätigkeit es ist, die erst in der Wechselwirkung der Willens 
acte untereinander das (bewußte) Vorstellen hervorbringt. 
So ist Wundt's Psychologie eine spiritualistische, speciell 
voluntarische Apperceptionspsychologie, die in dem Begriff 
der „schöpferischen Synthese" eine neue und glückliche Be 
zeichnung gefunden hat für Dasjenige, was man bisher 
apriorische Kategorialfunction genannt hat (nicht zu ver 
wechseln mit dem abstracten Kategorialbegriff). 
Sehr wichtig ist ferner, daß Wundt die Stufenordnung 
der Individuation in der Psychologie in ihrer Bedeutung 
erkannt hat. Was von Außen gesehen etwas Mechanisches 
ist, die Wechselwirkung der Atome, Zellen, Organe u. s. w. 
im Organismus, das ist, psychologisch betrachtet, etwas See 
lisches, und nur, weil dem so ist, läßt sich die Möglichkeit 
einer scheinbaren Vergeistigung des Mechanischen und Mecha- 
nisirung des Geistigen verstehen, wie sie bei dem Empor 
steigen niederer Formen des seelischen Geschehens in höhere 
und beim Zurücksinken höherer in niedere auftritt. Wie der 
Jndividualwille des Menschen ein Product des Zusammen 
wirkens vieler von ihm umspannter Jndividualwillen niederer 
Stufen ist, so hört auch diese Zusammensetzung nicht mit 
dem Einzelindividuum aus, sondern greift vom Einzelmenschen 
hinüber zu organisirten menschlichen Gesammtwillen, die den 
Einzelwillen ebenso umspannen und sich organisch eingliedern wie 
dieser die Zellenwillen. . Der Gesammtwille stellt eine Einheit 
höherer Ordnung dar, die die niederen Willenseinheiten nicht 
aufhebt, sondern mit ihnen in Wechselwirkung steht; er ist eben 
so real wie sie, weil die Realität nicht in einer gesonderten 
Substantialität, sondern in der Actualität des Wollens und 
Wirkens besteht. Er ist nicht bloß ein Aggregat aus der 
Zusammensetzung der niederen Willenseinheiten, sondern als 
psychische Erscheinung von höherer Einheit zugleich eine 
schöpferische Synthese, die zur Summe des Niederen ein 
höheres Neues hinzubringt, und zwar den höheren Gesammt 
zweck, dem die niederen Willenseinheiten ihre Sonderzwecke 
unterzuordnen haben. 
Daraus ergiebt sich dann die Wundt'sche Ethik, die den 
Glückseligkeitsstandpunkt sowohl in individuellem wie im socialen 
Sinne ebenso verwirft wie die blinde Unterordnung unter 
eine Autorität oder die bloße Selbstvervollkommnung des In 
dividuums als Selbstzweck. Den Individualismus bekämpft 
Wundt in jeder Gestalt, den Universalismus nur erstens, 
sofern er Utilitarismus ist, d. h. das Wohl oder die Glück 
seligkeit der Gesammtheit für den einzigen und höchsten Zweck 
des Gesammtwillens hält, zweitens als übertriebenen Univer 
salismus, der die einzelnen Glieder verschlingt und völlig 
entrechtet, und drittens als Glauben an eine geistige Jndi- 
vidualsubstanz höherer Stufe. 
Wundt's Bemühen, zwischen Individualismus und Univer 
salismus zu vermitteln, zeigt sich auf dem metaphysischen Ge 
biet nicht minder wie auf dem ethischen. Was auf Letzterem 
ein nebelhaftes Zukunftsideal ist, die bewußte Willenseinheit 
eines einheitlich organisirten Geisterreiches, das wird auf 
ersterem Gebiete zu der Forderung einer metaphysischen Ein 
heit, die aller Vielheit der atomistischen und höheren Willens- 
thütigkeiten vorausgeht, in ihr wirksam ist und den letzten 
Grund für die Einheit der Causalität und Finalität in den 
Naturgesetzen enthält. Die ganze Welt ist nur eine unvoll 
ständige Manifestation dieses unendlichen Weltgrundes, der 
ihrer gestimmten Actualität immanent ist, aber weder mit ihr 
identiffcirt, noch nach Analogie eines bewußten persönlichen 
Geistes gedacht werden darf. Im Mitgefühl drückt sich die 
unmittelbare Einheit des eigenen Ich mit dem fremden aus, 
und die Ethik hat nur diese triebartige gefühlsmäßige Er 
kenntniß in eine bewußte verstandesmüßige umzuwandeln. 
Der Geist erhält sich als unvergängliches Werden und Schaffen, 
und jede geistige Kraft behauptet ihren unvergänglichen Werth 
in diesem Werdeproceß des Geistes; dagegen ist der Anspruch 
aus persönliche "Fortdauer nach dem Tode lediglich ein Aus 
fluß des egoistischen Glückverlangens und gleich unvereinbar 
mit dem substantiellen wie mit dem actuellen Seelenbegriff. 
Es giebt keine andere Realität als Actualität, und alle 
Actualität ist Willenswirksamkeit, die sich als Beziehung 
zwischen verschiedenen Willensindividnen irgend welcher Stufe 
abspielt. So ist der Wille metaphysisches Realprincip, und 
dieses Realprincip ist doch ein rein spiritualistisches, oder wie 
Wundt irreleitend sagt, idealistisches Princip. Die Empfin 
dung, Wahrnehmung, Vorstellung entspringt aus Wechsel 
wirkung zwischen verschiedenen Willensindividuen, und die auf 
das wahrnehmende Individuum einwirkenden Willensindividuen 
oder Gruppen von solchen werden als „reale Objecte" auf 
gefaßt, die unmittelbar in und mit dem Wahrnehmungacte 
gegeben sind. Freilich wird alles Qualitative der Empfin 
dung und das Extensive der Anschauung erst vom wahrneh 
menden Subjecte durch schöpferische Synthesen zu dem realen 
Objecte snbjectiv hinzugefügt; aber das unmittelbar gegebene 
Quantitative (genauer Intensive) des Eindrucks, den eine 
Willensthütigkeit auf die andere übt, verbürgt die 'Realität 
des Objectes, das nur gedanklich und begrifflich in allge 
messener Weise erfaßt werden kann. Dies ist der Kern von 
Wundt's Erkenntnißtheorie, die er „kritischen Realismus" 
nennt. 
Empirie und Speculation schließen sich nicht aus, sondern 
bilden zwei zusammengehörige und einander ergänzende Stufen 
des Erkenntnißprocefses. Wie bei Kant hebt zwar alle Er 
kenntniß mit der Erfahrung an, entspringt aber nicht aus 
ihr. Reine Erfahrung ist eine unwirkliche Fiction, da in 
aller Erfahrung schon Voraussetzungen implicite mitenthalten 
sind, die nicht empirisch gegeben sind, da auch die ursprüng 
lichste schon schöpferische Synthesen zeigt, die wir, wie die 
Entstehung der räumlichen Anschauung und der Empfindungs- 
qualitüten, nicht mehr mit der Erfahrung selbst erfassen, sondern 
höchstens noch gedanklich reconstruiren können. Solche ge-
	        
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