© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 9
Freuden des Alters.
Rede von Vrof. 3Ulmt Pirtzker von der Staats-Universität von Kalifornien,
gehalten beim Maifest >898 im Deutschen Atterrtreinr.
G
vor allem sei mir erlaubt, der verehrten Verwaltung dieses lieben Altenheims
herzlichst für die Auszeichnung zu danken, die mir geworden, den ersten Vortrag im
Dienste einer edlen Sache halten zu dürfen. Ich möchte den gerechten Erwartungen gern
genügen, die das mir gegebene Thema verdient, aber ich fürchte, mancher wird enttäuscht
bleiben, denn ich kann noch nicht aus eigener Erfahrung sprechen; ich habe den heiligen
Tempel des Alters erst betreten und kaum gründliche Umschau in demselben gehalten,
obwohl Ehrfurcht mich erfüllt. Selbsterlebtes aus der Reisewelt, dem Sprach- und
Literaturleben, der Erziehungswissenschaft, ließe sich besser behandeln und so wird es mir
wohl vergönnt sein, meinen Gegenstand etwas frei und von einem idealen Standpunkte
zu betrachten.
Leider muß ich einleitend behaupten, daß die günstigsten Bedingungen für die Ent
faltung eines glücklichen Alters uns hier zum Theil fehlen. Eine falsche Idee der Unab
hängigkeit beherrscht in der jungen Republik die Gemüther, da der 2>jährige Bursche auf
sein Stimmrecht pocht und sich dem älteren Manne gleichberechtigt an die Seite stellt. Der
Reichthum an materiellen Erwerbsquellen erzeugt Unterschätzung und sogar Verachtung
des Erhabenen und führt zum neuen Götzendienst, der diesmal Goldstaub anstatt des
goldenen Kalbes als den zu verehrenden Gott aufgestellt hat, und wo' jetzt auf den Silber-
münzen zu lesen ist ,,Auf Gott vertrauen wir" dürfte man in Zukunft, wenn es so fort
geht, lesen: ,,Auf diesen Gott vertrauen wir". Wie überall, so sieht man mit trauri
gem Berzen die Ueberstürzung in der Erziehung unserer Kinder, und was heilig sein
sollte, wird fast ganz vergessen. So wundert sich niemand mehr, wenn in öffentlichen
Plätzen und Straßenwagcn Greise stehen, während Jünglinge sitzen, bei Versammlungen
die Jugend das Wort führt, während das Alter schweigen muß. Im Lande geboren zu
sein bedeutet mehr als Erfahrung und Weisheit und die californische Tochter sieht nicht
selten von oben auf die freindgcborene Mutter herab, welche Reden führen die Kinder
hier im verkehr mit ihren Eltern und selbst unter den Deutschen, der ehrlichsten Nation
der Welt, fängt die Ansteckung an ihr Unwesen zu treiben. Das Thier denkt nicht an
morgen, das californische Vieh kümmert sich nicht darum, ob es regnet oder trocken bleibt,
es frißt heute und geht morgen zu Grunde. So sind die Menschen auch, die in der
Jugend nicht bedenken, daß das Alter unausbleiblich herankommt und daß sie ernten
werden, was sic säen. Vernachlässigung des Alters ist das Merkmal der Barbaren, seine
Verehrung ein Kennzeichen der höheren Menschheit. Systematisch sollte die Alters
verehrung in der Familie, Schule, Kirche und Staatslehre der Jugend als heilige Pflicht
eingeprägt werden. Das vierte Gebot hat die tiefste Bedeutung und „Du sollst Deinen
Vater und Deine Mutter ehren, auf daß Du lange lebest" ist inhaltsschwer, denn der
Staat, wo dieses Gesetz nicht beachtet wird, muß untergehen. Die Weisheit und Mäßigung
des Alters muß herrschen, sonst geht Alles in die Brüche. Leider, leider, hier zu Laude
macht mau oft bittere Erfahrungen; das Alte ist werthlos.
wie zerrissen war mein Berz, als ich vor einigen Wochen eine kleine Stadt nicht
fünfzig Meilen von hier besuchte, deren sich die rücksichtsloseste Gewinnsucht bemächtigt
hat. In der Mitte derselben opfert man den Gottesacker, den Kirchhof, den Friedhof,
die letzte Ruhestätte, um da Bauser zu bauen. Die Grabsteine liegen herum, zertrümmert
und zerschlagen, Pferde, Kühe, Bunde und menschliches Gesindel ohne Berz und Gefühl
zertritt alles und mau sieht ein Bild der schrecklichsten Zerstörung, des grausamsten Van
dalismus. welcher Mensch, dem ein Berz im Busen schlägt, kann die Namen der armen,
lieben Kinder, der züchtigen Jungfrauen, der treuen Mütter, der arbeitsamen Väter, der
ehrwürdigen Greise auf den Steinen lesen — das Datum in den meisten Fällen ist neu —,
ohne Thränen des innigsten Mitleids, ohne Gefühl der inneren Empörung! Aber das
ist das Loos des Alten ! Im Einklänge mit solcher Rohheit steht es, wenn, wie.kürzlich
geschah, ein hochstehender Führer der Erziehungswelt sich wegwerfend über das Alter
ausließ, indem er alte Lehrer mit alten, abgebrauchten Pferden verglich, deren Dienste
man entbehren könne. Ich bedauere den kalten Denker und wünsche ihm Verehrung im
Greisenalter, damit er einsehen lerne, was der Unterschied zwischen Gelehrsamkeit und