Full text: Zeitungsausschnitte über Herman Grimm

auss Volks-Leitung,Berlin, 
Nr.305 1868,Dez.29,S.1 
wre 
Eine sonterbare Anzeige. 
^J» voriger Woche Hot eine Anzeige in den ber- 
Zeitungen die Runde gemacht, die UNS trotz der 
!amens-Angabe ihres Verbreiters „Hermann Grimm" 
ie eine Mystifikation erschien, weiche sich einer ernsten 
Betrachtung entzieht. Da nnö indessen bisher eine Be 
richtigung ihres Inhaltes nicht zu Gesicht gekommen, 
müssen wir die A-chth-.it des merkwürdigen Schrift 
stückes doch wohl voraussetzen und so dürfen wir eS 
nicht unterlassen, die mehr als sonderbare Anzeige ein 
wenig näher zu beleuchten. 
Im Jahre 1837 hat bekanntlich der König von 
Hannover, Ernst August, bei seinem Regierungs-Antritt 
die bestehende Verfassung deS Landes umgestoßen, um 
eine andere seines SmneS dem Lande zu oktroyiren, zu 
deren Aufrechthaltung und Beobachtung er sämmtlichen 
Staatsbeamten eine eidliche Verpflichtung auferlegte. 
Der Gewaltstreich regte damals die Gemüther der 
Gebildeten in Deutschland nicht wenig auf. Die juri 
stischen Fakultäten wie die Landesvertretungen der stei 
nen und Mittelstaaten Deutschlands nannten dieses 
Verfahren beim rechten Namen; allein Preußen und 
Oestreich bewirkten am deutschen Bunde, daß dieser 
sich für inkompetent erkläre, gegen den Staatsstreich 
Einspruch zu erheben. In den Klejv' und Mittelstaa- 
ten, wo die Presse selbst unter der bundesmäßigen 
Zensur noch immer ein Wort der Freiheit hören ließ, 
wurden auf Anlaß der beiden deutschen Großmächte 
vie Maßregelungen angewendet, um die That mit Still 
schweigen zu bedecken. Den Elbinger Stadtverordneten, 
welche sich unterstanden in einer Bittschrift das Recht 
deS hannoverschen Volkes darzulegen, wurde der all 
bekannte Bescheid zu Theil, daß sie bloßen „Unter- 
thanen-Verstand" hätten, der sich nicht anmaßen 
dürfe, die hohen Weisheiten der Regierung beurtheilen 
zu wollen. 
Die Vergeltung der Geschichte für diesen Staats 
streich der Welfen blieb lange aus. Die Gewalt blieb 
Siegerin und höhnte diejenigen, welche sich zu Mär 
tyrern des verletzten Rechtes machten. Aber die Namen 
dieser Märtyrer verliehen ihrem Widerstand einen von 
der Geschichte nicht leicht zu verwischenden Ruf. Sie 
ben Professoren der Universität Göttingen waren cS, 
welche sich weigerten, den geforderten Huldigungsrevcrg 
zu unterschreiben. Es waren dies die Professoren 
Dahlmann, Albrecht, Hrkob. und Wilhelm Gch.M. 
Gervinus, Ewald und Wilhelm Weber. "Unser dem 
Titel „Die Göttinger Sieben" wurden ihre Namen 
und ihre wissenschaftlichen'Verdienste schnell populär. 
Sie wurden des Landes verwiesen, fanden aber dafür 
die Theilnahme des Volkes, soweit es damals den po 
litischen Vorgängen folgen konnte. Man sammelte trotz 
des Verbotes der Regierungen eine für die damaligen 
Verhältnisse nicht unbedeutende Summe zu ihrer Unter 
stützung rmd bald fanden sich auch Regierungen, welche 
diesen Vertriebenen eine Stätte wissenschaftlichen Wir 
kens wiederum eröffneten. 
Die Brüder Wilhelm und Jakob Grimm fanden 
nn Jahre 1841 in Berlin als Mitglieder der Akademie 
der Wissenschaften Aufnahme. Sie gehörten bis zu 
ihrem Lebensende zu den geehrtesten Persönlichkeiten 
auch in politischer Beziehung, wo sie sich der liberalen 
Richtung anschlössen. Sie vergaßen hier wohl den 
Schmerz ihres eigenen MärtyrerchumS, nicht aber ent- 
E der Theilnahme für daS gleiche Ge 
schick Anderer. Und so sehte denn Wilhelm Grimck 
ml einem Testamente eine Summe von 2000 Thaler 
I, . , tt Zinsen in künftigen Fällen ähnlicher Art 
^Unterstützung politisch Verfolgter dienen 
„ Herr Hermann Grimm, Mit-Grbe des Namens, 
Vermögens und der Schriften der Verstorbenen, thut 
nun in der erwähnten Anzeige der Welt kund und zn 
vlsftn, in welcher Weise er die Zinsen des Kapitals 
zu verwenden gedenkt. Politische Märtyrer - so sieht 
der Scharfblick dieses Erben voraus — könne es, „nach 
der Gründung Norddeutschlands, einer Staatsbildung, 
weiche alle diejenigen befriedigen muß, die über das 
was Deutschland frommt richtige' und gesunde Begriffe 
haben , nicht mehr geben. „Die Stiftung ist dem- 
nach zu einem überflüssigen Ding geworden." ES 
können fortan keine Männer in Deutschland existiren, 
/rfUns Li \ in L)eulMano ex>,uic», 
f unb vertrieben auf öffentliche Unter- 
seien, wie einst vor dreißig Jahren 
Ä folglich müsse die Summe 
Werden, und nach seinem und der 
IS dies darin bestehen, daß von 
4( l° Exemplare der Grimm'schen 
Märchen als Geschenk für Kinder in alle Theile der 
Ä be / *? crben ' lUD deutsche Familien abgetrennt 
vom Mutterlande wohnen! — 
Nicht diese Thatsache, sondern die öffentliche Be- 
ranntmachung derselben veranlaßt uns ein paar Worte 
hreruber zu äußern. Der eigentliche Erblasser Wilhelm 
Grimm hat kem Legat dieses Sinnes hinterlassen. 
^ hat nur den Wunsch geäußert, wie die Erben das 
Kapital mrd dessen Zinsen verwalten sollen. Wollen 
diese den Wunsch unerfüllt lassen, so hat Niemand das 
ricecht sie hierüber zur Rede zu stellen. Die Bekannt 
machung jedoch fordert die Beurtheilung dieses Ver 
fahrens heraus und somit soll die unserige ihr nicht 
vorenthalten bleiben. 
Giebt eS in Deutschland wirklich keine politischen 
Märtyrer mehr? — Wir wollen nicht an Ewald er- 
innern, dem eben jetzt in Göttmgen der Prozeß gemacht 
wird, und der gerade Einer der „Göttinger Sieben", 
also ein Leidensgenosse der Brüder Grimm ist! — 
Wir stehen politisch nicht auf Seiten dieses Mannes, 
der ein großer Gelehrter von außerordentlichem Ver 
dienst, in den letzten Jahrzehnten eine krankhafte Ver 
bissenheit sowohl in seiner gelehrten wie in seiner 
politischen Kritik an den Tag gelegt hat, in der 
ihm Niemand folgen kann. — Aber die Frage 
müssen wir doch aufstellen: giebt eS wirklich keine Mär 
tyrer derart in Deutschland mehr, und kann es in der 
Folge auch keine solche geben? Ist Deutschland so ge- 
sichert, daß man voraussagen kann, was noch möglrch 
und unmöglich ist? Und tvare Nord deut sch land 
wirklich die Schöpfung, die alle Patrioten befriedigen 
„muß", ist es darum nicht gerade leicht möglich, daß 
in Süddeutschland, ja in Oestreich solch ein Märtyrcr- 
thunr eintritt? 
Unüberlegter ist wohl schwerlich jemals ein edler 
„Wunsch" von denen über Bord geworfen worden, die 
zu seiner Erfüllung berufen sind!!! 
•ei 
: 5*v*
	        

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