Full text: Zeitungsausschnitte über Ludwig Emil Grimm

© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 7 
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hatte, schon längst nicht mehr — lag vielleicht da 
rinnen, daß, wenn auch nicht die meisten, so doch 
viele Schüler des Schlüchterner Progymnasiums, zu 
meiner Zeit war es wenigstens so, nicht mit 9, 
sondern erst mit 10, 11, ja 12 Jahren zur Sexta 
angemeldet worden waren. 
Die beiden nur allein für das progymnafium! 
bestimmten und in ihm voll beschäftigten Lehrer 
waren der Leiter der Rnstalt, der Rektor und Pfarr 
amtskandidat Gottlieb Wendel, ein Sohn des Super 
intendenten in Hanau, und der Pfarramtskandidat 
Heinrich Vavin, 
ein Sohn des Se 
minarmusik 
lehrers in Schlüch 
tern, welcher wohl 
auch die Rekto 
ratsprüfung schon 
abgelegt hatte. 
Wendel, der später 
dann einige Jahre 
Gymnasiallehrer 
in Rassel war, 
starb jung als 
Pfarrer in Frank 
furt, und Vavin, 
welcher Seminar 
lehrer geworden 
war, wurde gleich 
falls früh von 
Gott durch den 
Tod abberufen. 
Wendel war Or 
dinarius der in 
einem Zimmer un 
tergebrachten Un 
tertertia und 
Ouarta, und Da- 
vin der gleichfalls 
vereinigten Ouin- 
ta und Sexta. 
Rußer diesen 
beiden eigentlichen 
Lehrern des Pro- 
gymnasiums un 
terrichteten noch an 
ihm einige Stadt 
schullehrer 
und während mei 
ner Ouar- 
taner- und Ter 
tianerzeit auch zwei Seminarlehrer. Ruch dieser letzte 
Umstand trug wohl etwas mit dazu bei, daß unter 
Rußerachtlastung des Rlters der Schüler die An 
sprüche an sie leicht überschraubt wurden. Sn der 
Untertertia z. B. wurden uns die Behandlung von 
Rufsatzthemen zugemutet und in der Geometrie Stoffe 
mit uns durchgenommen, die, wie ich später merkte, 
in Hersfeld erst der Untersekunda zufielen. 
Rls ich aus meinem kleinen, unfern des Meißners 
gelegenen Heimatdorfe nach Schlüchtern kam, fühlte 
ich mich zunächst wie in eine neue Welt versetzt, in 
welcher vieles mich mit Staunen und Bewunderung 
erfüllte. Wie schön und wie breit war doch die 
Obergasse, in der wir wohnten, im vergleich, zu 
Heimat und Sage / von Matth. Schiestt 
Kus der Kunst- und Verlagsanstalt B. Kühlen, München-Gladbach 
unserm heimischen steil ansteigenden Dorfwege, und 
wie stattlich ^ manches Haus in ihr. Das Kloster 
mit seinem vierseitigen Umgänge, mit seinen Figuren 
im vorraume des von diesem Kreuzgange umschlos 
senen Raumes, der dem Seminar, der Volksschule 
und auch uns im Sommer als Turnplatz diente, 
die Turnhalle wurde erst einige Jahre später durch, 
Umbau einer Klosterscheune eingerichtet, erfüllte mich, 
wenn ich es betrat, die erste Zeit jedemal mit Scheu 
und Ehrfurcht, hier hatten, wie ich von meiner 
ITTutter wußte, die Mönche gewohnt, hier war das 
alte Gymnasium 
gewesen, das noch 
mein Großvater 
Baist besuchthatte, 
hier war mein 
Vater Seminarist 
gewesen, hier 
hatte das franzö 
sische Lazarett sich 
befunden, in dem 
so viele verbrannt 
oder sonst gestor 
ben waren. Wenn 
nun gar der alte, 
an Rörperlänge 
alle überragende 
Seminardirektor 
Ltamm, dessen 
Schüler auch mein 
Vater gewesen 
war, und der mir 
aus den Er 
zählungen meiner 
Eltern als ein sehr 
strenger, aber doch 
auch wieder wohl 
wollender Leiter 
seiner Rnstalt be 
kannt war, ein 
mal in meinen 
Gesichtskreis trat, 
dann war ich mir 
meiner körper 
lichen, ich nahm 
neben Konrad 
Basermann, dem 
späteren 
Lehrer, in der 
nach der 
Tr . , * r „ r Rörperlänge beim 
Turnen geordneten Schulerreche den untersten plak 
ein, und meiner sonstigen Kleinheit voll bewußt. " 
Gar ehrwürdig erschien mir auch der alte grau 
haarige Stadtpolizist Rohlenbusch, wenn er am Sonn 
tagmorgen in seiner Uniform, den blanken Helm auf 
dem Kopfe, den Degen an der Seite aus der Linsen 
gasse, wo er wohnte, herauslrat und die Straße mu 
sterte, ob ihr ihr Recht auf Reinigung von den Rn- 
wohnern widerfahren sei. Wie groß waren doch die 
Rühe m Schlüchtern, größer als die größten Ochsen 
m unserm Dorfe, welch' schwere Pferde hatte doch 
der Bäckermeister Weitzel, „der Küppelbäcker", im 
vergleich zu unseres Nachbars Hektar, der bis dahin 
das Zdeal eines Pferdes für mich gewesen war, 
Ar. 27/29 GAGssAZsssGZZAssAADIAAGs Unsere Heimat tzOGOOGEHOOGHOGOOZ-EOtzO-tzEO beite 221 
und welch' köstliche Backwaren waren bei Weitzels 
und den andern Bäckern der Stadt zu bekommen, 
Zwiebäcke besonderer Rrt, Palisäderchen und Rrom- 
meserchen. Ruf mein Bitten hin gab mir meine 
Tante Dortchen, meiner Mutter unverheiratete Schwe 
ster, die bei meinem verheirateten Onkel in der 
Familie wohnte und deren besonderer Obhut ich an 
vertraut war, wohl einmal, aber selten, damit ich 
nicht verwöhnt würde, ein oder zwei Kreuzer zum 
Rnkauf eines solchen guten Gebäckes. Run gar aber 
öer Laden unseres Nachbarn Fehl. von diesem Kauf 
mannsladen hatte meine Mutter schon so viel er 
zählt, wie er aus kleinen Verhältnissen unter den 
Gutermuths, den Schwiegereltern des jetzigen Besit 
zers, allmählich emporgewachsen sei. Bei Fehls war 
nach meiner Rnsicht alles zu bekommen, wie ver 
blaßten dieser Fülle und Herrlichkeit gegenüber der 
Laden unseres heimischen Krämers Ludolf, ja die 
von uns Dorfjungen hochgehaltenen Kaufläden in 
unserer nächsten Stadt, in Lichtenau. Zwei Wind 
hunde, die ihren Besitzer jeden Morgen bei seinem 
Frühspaziergange begleiteten, und ein schöner Schim 
mel, mit welchem die waren vom Bahnhöfe 'geholt 
wurden, hoben noch das Rnsehen des Nachbarhau 
ses in meinen Rügen. 
Großen Respekt Hatte ich auch vor dem in un 
serer Nähe wohnenden Färbermeister Schäfer, wel 
cher ein einflußreiches Mitglied des Stadtrates war. 
Lr rief uns Nachbarjungen wohl zu sich heran, 
fragte uns nach unserm Stand und Verhalten in der 
Schule und kargte mit Rufmunterung, Belehrung 
und auch ernster Ermahnung nicht, wenn er das 
ein oder andre für angebracht hielt. Ebenso nötigte 
mir der Doktor Manns Bewunderung ab, wenn er, 
der stattliche hochgewachsene Mann, sorgfältig ge 
kleidet, mit der geraden Haltung eines Offiziers, 
regelmäßig zur Mittagszeit an unserem Hause vor 
bei zum „Löwen" ging. Meine Mutter hatte mir 
erzählt, daß er als Zunge mit seiner Mutter in 
unserm Hause einige Zeit zur Miete gewohnt hätte. 
Ebenso waren die Eltern des Lehrers Nruber in 
Niederzell, von welchem zwei Söhne einige Klassen 
vor mir im Progymnasium saßen, bei uns Mieter 
gewesen. Ruch zwei Schlüchterner Originale lernte 
ich durch andere Zungen bald kennen, das „Luckesche" 
und die „Ohrenmariech". 
Ruch an schonen Spielplätzen fehlte es, wie auch 
Goebels sagt, in Schlüchtern nicht. Die an der 
Schmiedsgasse gelegene „Postecke" bot so manchen 
Winkel, der zum verstecken- und Fangspielen nicht 
besser gewünscht werden konnte. Dort stand auch 
der Postwagen, der mehrere Male am Tage zu jedem 
Zuge unter Johanns, des Ztorchschäfers Knechtes, 
bewährter Führung die Postsachen und etwaige Rei 
sende, die den wagen benutzen wollten, von und 
zum Bahnhöfe schaffte. Noch mehr als dieser Platz 
in der Schmiedsgasse wurde der hinter der Ober 
gaste und der Linsengasse gelegene Sandgarten flls 
Spiel- und Tummelplatz von uns geschätzt. Rus den 
Löchern der anliegenden Scheunen beider Straßen, 
wie an der alten Synagoge vorbei, führte der weg 
der Jugend in diesen, dem alten Maler Hubert 
Zinkhan und seinen Geschwistern gehörigen, großen 
Garten. Dort wurde vor allem im Frühjahre und 
herbste Schlagball und Räuber und Gendarm ge 
spielt, mit Bogen geschossen, mit Schleudern geworfen 
oder auch an der kleinen Rnhohe, die noch vom 
alten Wallgraben herrührte, sich gebalgt, sich ge 
lagert, sich erzählt. Kam dann der alte Herr, der 
unten im Schlößchen, der heutigen Dienstwohnung 
des Bürgermeisters, wohnte, einmal mit seinem 
Hunde, so stob alles auseinander, um, fobald das 
Feld wieder frei war, wieder aufzutauchen. Rn Spiel 
kameraden fehlte es in der Gbergasfe nicht. Karl 
Fehl, Süßkinds Siegfried, sein Familienname war 
Oppenheimer, Rdam Weitzel, die Zungen des Uhr 
machers vey wohnten als Progymnasiasten in un 
mittelbarer Nähe vom Hause meines Onkels. Ruch die 
Schmiedsgasse barg eine Reihe von Zungen, die das 
Progymnasium schon besuchten oder später besuchen 
wollten, hier wohnten Wilhelm Eichend erg, die wie- 
derholds Zungen, die später Lehrer wurden, und 
der Sohn des Kaufmanns Zung. 
Da die Eltern meines Klassenkameraden Fenner 
als Pächter des Rittergutes Gliemsrode, das in der 
Nähe unseres Heimatdorfes lag, mit meinen Eltern 
Verkehr gehabt hatten, fand ich im Haufe derselben 
in Schlüchtern freundliche Rufnahme, wenn ich meinen 
Schulfreund besuchte. Sie betrieben in der Wassergasse 
ein Kaufmannsgeschäft. Der alte Herr lag viel auf 
dem Sofa, wahrscheinlich war er herzleidend. Zhrem 
jüngsten Sohne Ferdinand und seinen Gespielen wurde 
viel Freiheit eingeräumt, zumal als Herr Fenner 
gestorben war. Ruf dem geräumigen Boden des 
Hauses spielten wir, mit unsern Schulranzen als 
Tornistern bepackt und mit alten, dort vorhandenen 
Waffen bewehrt, Soldaten und eroberten wohl mit 
großem Getöse die als Festung angesehene Bodenkam 
mer. Bei Fenners lernte ich auch eines Tages den 
Maler Zinkhan kennen, der ein Bruder der Frau 
Fenner war. Zch war voll Bewunderung, als dieser 
Gnkel Hubert auf Ferdinands Wunsch hin, ihm ein 
altes Frauchen zu malen, mit wenig Strichen in ganz 
kurzer Zeit mit der Bleifeder ein reizendes Bildchen 
zu Papier brachte. 
Einige Wochen nach meinem Kommen nach Schlüch 
tern sah ich auch das erste Karussel. Einige von mei 
ner Tante mir gespendete Kreuzer ermöglichten mir 
freilich nur einigemal das Fahren auf ihm. Rllein 
im übrigen wich ich, solange das Karussell in Schlüch 
tern war, innerhalb der von der Schule uns zum 
Rusgehen bewilligten Zeit, kaum einen Rugenblick 
von dem Platze in der Wassergasse, wo es sich befand, 
und beneidete die Kinder des Besitzers sehr, daß 
sie von Grt zu Ort mit herumziehen konnten. 
So gewöhnte ich mich allmählich, beim Rbschied 
von der Mutter hatte es allerdings Tränen gegeben, 
bald an die neuen Verhältnisse, zumal meine ver 
wandten mit mir freundlich waren und mit mir Ge 
duld hatten. Ruch die meisten meiner Schulkameraden 
waren gegen mich, der ich fast der jüngste, jedenfalls 
aber der schwächste unter ihnen war, gut. Freilich 
ganz fehlte es an Unfreundlichkeit nicht. Manchen 
puff mußte ich mir doch von meinen stärkeren Mit 
schülern gefallen lassen und nicht minder manchen 
Spott über die niederhessische Rbtönung meiner Spra 
che, wie über die Rnschauungen und Gepflogenheiten 
des Dorfjungen. Ts war dies um so empfindlicher 
für mich, als ich, der Sohn des Lehrers, auf unserm
	        

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