© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 7
Seite 218 ZsZIAAGsZKGZAAGZAAGA-KZGA Unsere Heimat HtzGHtztztztztzEWHE-OHHtztzGHtzEtzH Nr. 27/29
meinen Oheim, den Professor Iosias hadermann*)
zu Büdingen. Bon den wenigen Tagen, die ich bei
ihm zubrachte, verwandte ich mehrere auf einen Fo
lianten, der mich ungemein anzog. Ls war eine
Handschrift meines Großvaters Heinrich Hadermann,
der fast sein ganzes Leben Kektor am Schlüchterner
Gymnasium gewesen war. Meine Tante sagte zu
mir, dies Buch, hat Ihr Gheim gesagt, soll nach
seinem Tode Ihnen zugestellt werden.
*) Weitester Sohn des Rektors Hadermann zu Schlüchtern
und Bruder der mit dem Schlüchterner Ratsherrn Johannes
Lotich verheiratet gewesenen Marie Margarete Hadermann,
der Mutter des Dr. Philipp Marius Lotich aus Schlüchtern,
der den letzten Teil seines Lebens zu Herolz verbracht hat.
Mein Oheim war gestorben, seine Bibliothek war
zerstreut. Niemand wußte mir Ruskunft zu geben.
Unendlich schade ist es um das ausführliche Tage
buch meines Großvaters während des Siebenjäh
rigen Kriegs."
Nur zu deutliche weisen diese Zeilen darauf hin,
wie schmerzlich der Verlust dieses Tagebuchs für
uns bewertet werden muß' denn es bann wohl
keinem Zweifel unterliegen, daß wir durch ihn eines
sehr wichtigen Ouellstücks nicht nur für die Ge
schichte des Schlüchterner Gymnasiums, sondern auch
für die Geschichte unserer Heimat für immer beraubt
worden sind.
(Fortsetzung folgt)
Erinnerungen an meine Progymnasialzeit in Schlüchtern
besonders an das Rriegsfoyr l$70/7]
von Pfarrer i. N. H. Becker, Kassel
I.
ie Familie Baist, welcher meine Mutter ent
stammte, gehört zu den alteingesessenen der
Stadt Schlüchtern. 1579 verheiratete sich ein
Thristian Beist mit einer Margarete Schmelz, 1581
geschieht eines Henrich Beist Lrwähnung, 1604 wird
ein Valentin .Beist und 1625 ein Lorenz Beist ge
nannt. verschwägert und versippt ist die Familie
Baist mit den andern alten Familien, den Weitzels,
den Zchultheihes, den Hafners, den Bolenders, den
Leipolds und andern. Die Baists, deren Wohnhäuser
ehedem meistens in der Hauptstraße der Stadt, in
der Obergasse lagen, waren neben Landwirten fast
immer Bäcker und hatten zuweilen, nicht immer, in
Verbindung mit ihren Bäckereien Gastwirtschaften.
Später hatten einige von ihnen wohl auch nur Gast
wirtschaft.
Bei dem großen Durchgangsverkehr, welchen
Schlüchtern bei seiner Lage an der Frankfurt-Leip
ziger Landstraße hatte, brachten diese Berufe, wenn
nicht grade ein reichliches, so doch ein sicheres Ein
kommen. 1677 geschieht eines Witwers Ioh. Hen
rich Baist Lrwähnung, dessen Sohn Nikolaus Baist,
der Besitzer der Wirtschaft „zum goldnen Tngel", sich
in diesem Jahre mit Dorothea Weitzel verheiratete
und 1717 seinen Besitz an seinen mit Justine Schult
heiß verheirateten Sohn, den Lngelwirt und Bäcker
Nikolaus Baist weitergab. Das in der Obergasse
gelegene Gasthaus „zum goldnen Engel", das ehe
malige Thalersche Wohnhaus, ist wohl als Stamm
haus fast aller jetzt noch, in Schlüchtern vorhandenen
Baiste anzusprechen. Nus dem „Engel" stammte der
Schlüchterner Metropolitan Georg Friedrich Baist,
aus ihm stammte auch meiner Mutter Urgroßvater,
der Bäcker Ludwig Baist, der in die Bäckerei seines
Schwiegervaters Erasmus Lotender einheiratete, und
der dann sein an der Ecke der Obergasse und
Schmiedsgasse rechter Hand gelegenes Haus auf Sohn
und Enkel, namens Erasmus und Michael, die beide
Bäckermeister waren, weiter vererbte. In diesem
Hause meines Großvaters Michael Baist wurden,
wie meine Mutter erzählte, jedes Jahr in der Oster
zeit von den Iudenfrauen, den Vorschriften ihres
Glaubens gemäß, die Dsterbrote, die Matzen, zuge
richtet und dann von meinem Großvater gebacken.
Den dem „goldenen Engel" gegenüber gelegenen
„goldenen Stern", der in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts der vornehmste Gasthof Schlüchterns
war, besaß gleichfalls ein Baist, nach dessen Tod er
an dieser Stelle der Stadt einging. Durch die in
jener Seit noch in wagen nach Bad Brückenau rei
senden Kurgäste und durch andre Keifende, die viel
fach in Schlüchtern übernachten mußten, hatte der
„goldene Stern", der reichlich mit Stallung versehen
war, guten Zuspruch und Verdienst.
Meiner Mutter Mutter war eine geborene Huf
nagel. Ihr Vater, Wilhelm Hufnagel, war Hospi
talverwalter und Präsenzer in Schlüchtern und wähnte
in dem jetzigen Kinglerschen Hause in der pfarr-
gasse. Tr hatte in dem Hilfskorps, das der Graf
von Hanau im amerikanischen Unabhängigkeitskriege
England zur Verfügung stellte, in Amerika mitge
kämpft. Das Schlüchterner Heimatmuseum besitzt
unter Glas und Nahmen einen Brief, welchen dieser
mein Urgroßvater wilh. Hufnagel 1781 von seinem
Vater, dem Pfarrer Ioh. Peter Hufnagel in Hinter
steinau, nach Amerika erhielt, und welcher so recht
bezeichnend für die damalige Zeit ist. (vergl. „Unsere
Heimat" 1927 Nr. 5/6).
Meine Mutter, die als Lehrersfrau in einem Dorfe
Niederhessens, im Hessenlande wohnte, wie der Ha
nauer noch vor 60 Jahren in Erinnerung an die
alte Selbständigkeit seines Ländchens sagte, hing mit
großer Liebe an ihrer Heimatstadt, aus deren Ge
schichte, aus der Geschichte von deren Familien sie mir,
ihrem ältesten Kinde, viel und oft erzählte.
Ihr Vater war grade Soldat in Hanau, gewesen
als die Franzosen 1806 das neutrale Hessen besetzten.
Zur Kennzeichnung der billigen preise der damaligen
Zeit erzählte sie, daß, ihr Vater, der Bursche bei
einem Leutnant gewesen sei, zuweilen für diesen
1 Portion Hasenbraten für 7 Kreuzer, d. h. 24 pfg.,
im Gasthause habe holen müssen. Schwer lag die
Kriegszeit von 1806 bis 1815 auch auf Schlüchtern.
Meiner Mutter Mutter war auf dem Gange von
Hanau, wo sie bei ihres Vaters Bruder, dem Kon-
sistorialrate und späteren Superintendenten Hufnagel,
zu Besuch gewesen war, zwischen Steinau und Schlüch
tern nur mit Not der Gewalttat französischer Sol
daten entgangen. Als nach der Völkerschlacht bei
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Leipzig im Oktober 1815 der Kückzug der geschla
genen Truppen auch durch Schlüchtern kam, hatten
viele Bewohner die Stadt mit ihrem Vieh und andern
Habseligkeiten verlassen und sich in den Wald ge
flüchtet, so auch Hufnagels in der pfarrgasse. Bei der
Kückkehr hatte man dann im Hause alles verwüstet,
wohl gar zerschlagen gesunden. Im Kloster war ein
Lazarett eingerichtet worden, in welchem einige hun
dert verwundete und kranke französische Soldaten,
meist blutjunge Leute, lagen. Die mitleidigen Schlüch
terner brachten an Speisen in dieses Lazarett, was sie
nur irgend entbehren und beschaffen konnten. In
einer Nacht kam dann, wie man sagte, durch Unvor
sichtigkeit beim Bauchen Stroh, auf welchem die
Verwundeten lagen, zur Entzündung, und viele In
sassen des Lazaretts erhielten schwere Brandwunden.
Das Jammern dieser Verletzten sei entsetzlich ge
wesen. In einem Massengrabe in einem Garten
links am Wege nach Niederzell, so erzählte meine
Mutter, fanden die in Schlüchtern gestorbenen Solda
ten, und es waren ihrer nicht wenige, ihre Kuhrstätte.
Meine Mutter erzählte auch, daß bei dem französischen
Kückzuge ein mit wertvollem Material beladener
Wagen, der unter Bewachung in einer Scheune unter
gestellt war, des Nachts von hinten, ohne daß es
der französische Posten merkte, ausgeraubt worden sei.
Der verantwortliche wachthabende habe sich dann
am nächsten Morgen, als er die Sache merkte, er
schossen. Ebenso erzählte sie von einem in Schlüch
tern in ihrer Jugend umgehenden Gerüchte, wonach
auch bei diesem Kückzuge ein französischer Soldat des
Nachts von einem Schlüchterner Einwohner sollte
erschlagen, beraubt und im Garten eingescharrt wor
den sein. Als dann in einem der ersten Jahre nach
1870 die neue Bahnhofsstraße angelegt wurde, fand
sich tatsächlich ein Skelett, bei welchem noch Militär
tressen lagen, wie sie die Franzosen noch 1870 an
ihren Uniformachselklappen hatten.
Mit großer Liebe gedachte meine Mutter ihres
Lehrers hilberg, bei dem sie einen guten Unterricht
genossen, und der sich ihrer auch außerhalb des
eigentlichen Unterrichtes durch herleihung deutscher
Klassiker und sonstigen guten Lesestoffes angenom
men hatte. Sie bedauerte es sehr, daß hilberg dann
in der Aufruhrzeit sich gegen die Negierung gestellt
und die Nede bei der Gedächtnisfeier für den erschos
senen Nobert Blum gehalten hatte. Seines Amtes
infolgedessen entsetzt, verbrachte hilberg sein späte
res Leben in den allereinfachsten Verhältnissen auf
einem Dorfe bei Schlüchtern (Gundhelm). Tin ver
wandter meiner Mutter, der aus Hanau eben auch
in dieser Aufruhrzeit mit andern gekommen war,
um in Schlüchtern eine Brandrede zu halten, hatte es
nicht gewagt, sein vorhaben auszuführen, da seine
resolute, anders gesinnte Mutter ihm erklärt hatte,
sie würde ihn, falls er die Kednerbühne betrete,
rücksichtslos blamieren und herabreißen, und er aus
Erfahrung wußte, daß seine Mutter auch ausführte,
was sie vorhatte. AIs dann zur Dämpfung des badi
schen Aufstands das Fuldaer Kegiment vom Kur
fürsten als Bundeskontingent nach Süden gesandt
wurde, war bei vielen in Schlüchtern, wie auch sonst
irrt hanauerland, große Aufregung, ja man trug sich
mit dem Gedanken, sich dem Durschmarsche der Sol
daten durch Schlüchtern mit Gewalt zu widersetzen.
Heimat GOtzODtzHHOtzDtztzGGtztz-OOtzOOE-tz Seite 219
Es kam zur Aufstellung an dem Obertore der Stadt,
und als die Truppen dann ankamen, wurden sie
anstatt mit Feuer mit hurra empfangen.
Zu erzählen wußte meine Mutter von der Bega
bung und dem großen Fleiß des durch heirat mit ihr
verwandten jungen Seminarlehrers, des späteren Se
minardirektors Kaspar Lotz, wie treulich er zuhause
jeden Augenblick ausgenutzt habe, und wie er am
hohenzeller Berge einen einsamen Flecken des Som
mers oft aufsuchte, um dort ungestört lesen und
arbeiten zu können. Ebenso erzählte sie mir, so
weit es meinem kindlichen Verständnisse angemessen
und ihr wohl nützlich schien, Lebensgeschichte sind
Schicksal mancher Schlüchterner Familie und einzelner
Personen.
So wurde mir Schlüchtern, das ich nur als vier
jähriger Junge einmal gesehen hatte — Keifen war
damals, wo die Bebra-Frankfurter Eisenbahn noch
nicht da war, umständlich — bekannt und lieb. Es
erschien mir als ein Grt, wo zu 'leben ein großer
Vorzug sein würde. Als dann meine Eltern trotz
ihres schwachen Einkommens beschlossen, mich eine
höhere Schule besuchen und, wenn es durchführbar sein
würde, studieren zu lassen, war es ihnen und mir
selbstverständlich, daß ich zunächst das Progymna
sium in Schlüchtern besuchen sollte. Mein Gnkel, der
Glasermeister Wilhelm Baist, der, * da mein Groß
vater im Sommer 1869 gestorben war, das Eltern
haus meiner Mutter übernommen hatte, war gern
bereit, das Kind seiner jüngsten Schwester, er war
fast 12 Jahre älter als sie, bei sich aufzunehmen.
Ostern 1870 brachte mich dann meine Mutter nach
Schlüchtern, wo ich mit etwa 8 andern Aufnahme in
die Sexta des Progymnasiums fand. Zu meinen
Klassengenossen gehörten, soweit ich mich erinnern
kann, aus Schlüchtern Wilhelm Tichenberg, der später
Lehrer wurde, die späteren Kaufleute Karl Fehl und
Ferdinand Fenner und die späteren Handelsleute Neu
hof und Kothschild. Von auswärts waren außer mir
zur Aufnahme gekommen die beiden Vettern Adam
heilmann, der im vorigen Jahre verstorbene, ge
wesene Pfarrer in Göttingen, und August Sauer, der
heutige Pfarrer in Niedermittlau, und Friedrich Mer-
gell, der auf der Schule an Fleiß und Betragen ein
Musterschüler war und einige Jahre nach seiner Kon
firmation, er hatte Kaufmann gelernt, verstarb. Die
Lehrstoffe, die Klasseneinteilung und dir Klassenzim
mer waren 1870 noch genau dieselben, wie sieben
Jahre zuvor, wie sie Pfarrer Goebels in dieser Zeit
schrift in Nr. 15/16 des vorigen Jahrganges geschil
dert hat.
Dadurch, daß in der Sexta zwei fremde Sprachen,
Lateinisch und Französisch, in der Ouinta durch Hinzu
nahme des Griechischen drei fremde Sprachen ge
trieben wurden, und in der Esuarta Mathematik
hinzukam, waren die Schüler in einer Weise belastet,
die dem für die einzelnen Klassen normalen Alter
— für Sexta sind es bekanntermaßen 9 Jahre —
keine Kechnung trug, und es nur ganz gut veranlag
ten, sehr fleißigen und in der Volksschule gleich
mäßig vorgebildeten Kindern gelingen ließ, das ge
steckte Ziel zu erreichen. Ein kleiner Ausgleich und
auch eine kleine Entschuldigung für diese Einrichtung
— auf dem Gymnasium war diese unpädagogische
Stoffverteilung, wenn sie je einmal dort geherrscht