Full text: Zeitungsausschnitte über Ludwig Emil Grimm

© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 7 
Seite 158 ZsZssAZHHAZSSZGAAASSsZZS Unsere Heimat GtzEHtzOEHOGGHGSEHHHOHtztztztz Nr. 
wenn man die Schlüchterner pfarrherrn mit ihrer 
Entstehung in nähere Beziehung bringt und ihre 
Abfassung dem Schlüchterner Presbyterium, in dem 
ja die Pfarrherrn den Ton angaben, zuschreibt. Sie 
lautete: 
I. Die Lehrart bei dem Gymnasium zu Schlüchtern. 
1. In der Religion. 
In der Religion werden die Schüler des Gymna 
siums zu Schlüchtern nicht zu deutlichen Begriffen 
und gründlichen Beweisen angeführt, daher es dahin 
kommt, daß sie diversa objecla (verschiedene Gegen 
ständes mit einander confundieren (vermengen} und 
alles aus der Bibel und die Bibel durch sich selbst 
beweisen wollen. 
2. Im hebräischen und Griechischen. 
Beide Sprachen werden in prima sehr schlecht 
getrieben, vom hebräischen wissen sie fast gar nichts. 
Reiner kann den l. Psalm expliciren (übersetzen}. 
In Sekunda hört man so wenig von dem einen, als 
dem anderen ein Wort. 
3. Im La 
teinischen, 
hierinnen 
werden jün 
geren Leu 
ten sowohl 
in prosa, 
als ligata 
oratione 
[in unge 
bundener, 
als in ge 
bundener 
Rede} allzu 
schwere 
Aulores 
[Schrift 
stellers ge 
geben. Sie 
können 
oft adjecbvum (Eigenschaftsworts und substan- 
bvum (Hauptworts nicht zusammensetzen und sollen 
doch Vergib Aeneis*) expliciren (übersetzen}. Es 
wird nicht dafür gesorget, daß sie Copiam ver- 
borum und Phrasium (einen Schatz der Worte und 
Redensartens in den Ropf bekommen; noch weniger 
wird man das, was der Autor (Schriftstellers saget, 
auf eine andere Art ausdrücken, besonders aber den 
Auctorem in der Schönheit seiner Schreibart durch 
eigne Composibonen imitiren (Ausarbeitungen 
nachahmens lernen. Und was 
4. die (Kompositionen (Ausarbeitungens, welche 
die jungen Leute machen müssen, anlanget,' so sind 
dieselben einesteils zu wenig, teils wird damit nicht 
gehörig verfahren. Einen deutschen oder lateinischen 
Brief zu schreiben, eine Chrie zu elaboriren [eine 
kurze Schulrede anzufertigen}, davon wissen sie nichts. 
Die Exercitia (schriftlichen Sprachübungen} und [Über 
setzungen werden zu Hause gemacht, die sich dann 
einige derselben durch jemand anders machen lassen, 
andere solche von ihren Eameraden abschreiben; 
die üorrectur weiter nicht ansehen, mithin die Fehler 
des Exhibib (der schriftlichen Arbeits nicht kennen 
lernen und also auch sich für denenselben in der 
Folge nicht hüten können. 
*) Hauptdichtung des Dichters Virgil. 
„Mein Heim ist nicht Ln dieser Leit" / Rudolf Schäfer 
19/20 
wird darinnen 
fet)r gefehlet, daß die lungeren Leute nicht zu einem 
allgemeinen Begriff derselben und daß sie die 
Jjijtone non Anfang der Welt bis auf die gegen- 
wartige Z-tt nach den ljaupteinleilungen und wich 
tigsten Segebenhe>ten Kennenlernen, angeführt werden. 
ö. In der Geographie hat es hi-rinnen, wie in 
der Historie gleiche Lejchaffenl,eit. Die jungen Leute 
werden nicht angeführet, vorerst einen Begriff von 
nLV®'T ap ! , ' e 9cm3cn Zu bekommen, joidern 
bleiben bei einem oder dem anderen 5tück hangen 
AuG bE weder da- eine, oder das andere. 
Auch fehlet der Rector hier ,n seinem Unterricht 
daß er die langen Leute mehr zur hersagung deren 
lateinischen Namen, als zu der deutschen Benennung 
TÄ»« 
U'cht aufwendig lernen läßet und in der unrichtigen 
Meinung 
stehet, als 
wenn das 
Lernen und 
der Unter 
richt blos 
dissevsia 
[in der Form 
einer Unter 
haltung} ge 
schehen 
müsse; 
8. haben 
die Schüler 
nicht einmal 
ein jeder 
sein eigenes 
Schulbuch, 
worinnen er 
lernen soll, 
sondern einer borgt dasselbe von dem andern in 
d« Schul-mithin sind diejenigen, welche solche 
nicht für sich besitzen, als deren die mehrelten lind 
außer Stande, sich zu Hause auf ihre Lektion zu 
präpariren svorzubereitenj, noch bei dem Unterrickt 
selbst darinnen nachzulesen. Der Rector sagt dak 
man solche Bücher zu Schlüchtern nicht haben 
Könne. 1 
9. Die Schreib- und Rechenstunde wird nur von 
denen kleinen Schülern frequentiret; die großen 
welche oft ebensowenig schreiben und rechnen können' 
hat der Rector dispensiret. Auf diese Art ist es 
also nicht möglich, daß die jungen Leute sollten 
recht lesen und schreiben können. 
10. Die Zeitung, woraus junge Leute, wenn sie 
dafür angeführt werden, die neuste Geschichte er 
lernen und sich zugleich in der Geographie üben 
können, wird in dieser Schule gar nicht gelesen. 
II. Die Fehler und Mängel der Disciplin bei dem 
Gymnasio zu Schlüchtern betreffend. 
I. Führet der Rektor Hadermann eine sehr ver 
derbliche Schulzucht und das besonders mit denen 
Schülern der I ten Elasse, in deme Er dieselben als 
große Herrn tractiret und ihnen allen Mutwillen 
ungestraft hingehen läßt, sodaß, wenn auch die pre- 
Nr. 19/20 AAsSS'-LZPSAGZAAZZAKHJs-JGG Unsere 
diger darüber klagen, dadurch nicht nur nichts aus 
gerichtet, sondern gedachter Rektor noch dazu in einen 
großen Affekt gebracht wird, weil derselbe nicht lei 
den kann, daß jemand etwas gegen seine Schüler 
sagt. Am allerschlimmsten aber ist, daß er die Schul 
stunden mit unschicklichen Reden und Erzählungen 
zubringt, da er seinen Schülern erzählet, was er für 
Reisen getan, welchen weg er genommen, was Ihme 
auf der Reife begegnet, welche Gesellschaften von 
beiderlei Geschlecht er frequentiret (besucht}, wie 
prächtig das Land seye, was in Compagnien (Gesell 
schaften} vorgesetzt werde (nämlich an Speisen}, wie 
die Ruhställe gebaut sind, was die Rühe zu fressen 
bekommen, wie dieselben sauber gehalten werden und 
dergleichen mehr. Die hieraus entstehende Familiari 
tät wird dadurch noch vermehret, daß derselbe seinen 
Schülern erlaubet, in seiner Gegenwart Tabak zu 
rauchen und auf den Straßen mit langen Tabakpfei 
fen herumzugehen, auch daß er die Schüler Mes 
sieurs (meine Herrn} nennet. 
2. Die vor "Zeiten bei dem Gymnasio sehr gut be 
fundene Gewohnheit, daß alle und jede Rirchtäge 
die Schüler sich vor dem letzten Geläut im Eloster 
haben einfinden und Prozessionsweise zur Rirche gehn 
müssen, nach geendigter predigt aber wiederum in 
erjagter Prozession vom Rektor in das Auditorium 
geführet worden und ein jeder dasjenige, was er 
aus der predigt behalten, hat hersagen müssen, ist 
durch den letzten Rrieg ins Stocken geraten und 
dadurch der Unachtsamkeit und vielem Mutwillen 
sowohl in, als außerhalb der Rirche Tür und Tor 
geöffnet worden, wie denn auch 
3. die Schüler in der Rirche einen solchen Mut 
willen mit plaudern und mit aus- und einlaufen 
treiben, daß es jedermann zum Aergernis gereicht. 
Und obschon des Sonntags morgen der Rektor Hader 
mann und Präzeptor Nüchtern — denn von dem 
Tonrektor Ereß heißt es, daß derselbe gar selten 
in die Rirche komme — öfters zugegen sind, so 
wird doch demselben keineswegs gesteuert, sondern 
es gehen besagte Praezeptores selbsten ihren Schü 
lern mit einem bösen Exempel vor, in dem sie von 
Anfang bis zu Ende der predigt die Zeit mit un 
nützem Geschwätz zubringen. Des Rachmittags aber 
und besonders im Winter, da selten ein Praezeptor 
in der Rirche erscheint, ist der Unfug derer Schüler 
unbeschreiblich groß. 
4. wird über die Tensur geklaget, in dem solche 
von dem rectore Hadermann allein vorgenommen 
wird, aber gar nichts tauget,' Gestalten gemeiniglich 
nur die armen kleinste Schüler bestraft, denen andern 
aber nachgesehen wird. 
5. haben die Praeceptores die üble Gewohnheit 
an sich, daß sie sich nicht nur zur rechten Zeit in 
denen Tlassen nicht einfinden, sondern auch nach 
dem Gebät des Morgens sowohl, als zwischen der 
Schularbeit auf dem langen Gange spazieren gehen 
und viele Zeit mit plaudern zubringen, wodurch dann 
die Iugend selbst in der Schule zügellos und un 
bändig wird und nichts lernet. 
6. Wird nicht nur den Sommer hindurch und 
zwar Mittwochen und Samstags nur eine Stunde 
Schule gehalten, sondern es werden auch außer den 
gewöhnlichen Lxamenferien fast bei allen Gelegen 
heiten als zum Exempel a) auf die Schlüchterner 
Heimat tztzHtzHGEGH.OtztzHGWHH.OOOSGDH Seite 159 
Jahrmärkte, b) auf Fastnacht, c) auf Maitag, d) 
auf den Martinstag, e) auf die Namenstage der 
Praeceptoren, f) wenn das Schießen gehalten wird, 
g) wenn es schön Wetter zum Aus- unb Spazieren 
gehen wird, h) bei sonstigen Gelegenheiten und sol 
chen noch das Iahr hindurch [4 Zahr Spieltage ge 
geben. 
7. Werden die Promobones [Versetzungen} derer 
Schüler sowohl in denen Tlassen, als auch ad lec- 
tiones publicas (zur Universität} ehe sie (die Schüler} 
die nötige Geschicklichkeit besitzen, mithin zu früh 
zeitig, vorgenommen. 
8. Werden die Schüler seit etlichen Jahren her mit 
verschiedenen allbereits abgestellten Akzidenzien, also 
zum Exempel, daß sie die Praezeptores auf ihre 
Ramenstäge anstatt der sonst gewöhnlichen präzeln 
mit Pantoffeln und andern Stücken binden, beschweret. 
9. Wenn die Schüler vemam exeundi (Erlaub 
nis zum Austreten} nehmen, so laufen dieselben ent 
weder im Tlosterhof, oder auf den Straßen lange 
herum, ehe sie wieder zur Schule kommen. 
10. Wenn des Nachmittags nach gehaltenem Ge 
bät der Gesang in dem Auditorio verrichtet wird, 
so haben weder die Primaner, noch die Sekundaner, 
noch auch die Tertianer die Gesangbücher bei. sich 
und muß der Gesang öfters bloß von kleinen Schü 
lern, welche noch nicht recht lesen können, geführt 
werden. 
11. Ist zwar wegen der Aufführung derer Schüler 
sowohl in, als außer deren Tlassen, desgleichen we 
gen der Unsauberkeit bei selbigen und im Eloster 
eine Verordnung unterm 14. Oktober 1761 ergangen, 
gleichwohlen aber wird noch vieler Mutwillen ausge 
übet und herrscht noch immer eine große Unsauber 
keit in dem Eloster. 
12. Wird über das unfleißige Rommen der Schüler 
zur Elasse des Rantors Beschwerde geführt. Gestal 
ten sich alsdann oft gar wenige und noch dazu ganz 
kleine in der Schule einfinden, mithin die meisten den 
Sommer über fast alles wieder vergessen, was sie den 
Winter über gelernt haben. 
13. ist des Tantors Gille Schule, da dieselbe sonder 
lich den Winter oft weit über 100 stark ist, allzu 
zahlreich, als daß gesagter Tantor, weil ihme öfters 
nicht einmal soviel Zeit übrig bleibt, einen jeden 
Schüler seine Lektion aufsagen zu lassen, solche ge 
hörig unterrichten könne. Die übermäßige Anzahl 
derer Rinder in dieser Elasse rühret daher, daß die 
Eltern ihre Rinder allzu früh und bevor sie noch das 
jenige, was sie der Ordnung nach vorher sollten er 
lernet haben — Gestalten gar viele nicht einmal 
das A. B. T. können — auf das Gymnasium, weil 
dieses eine Freischule ist, schicken und gleichsam auf 
dringen. Der Rektor und Tonrector auch, weil die 
Reception (Aufnahme} mit einem Accidenz begleitet 
gehet, sich dazu nicht lange nötigen lassen. 
(Fortsetzung folgt) 
Das nächste Ziel mit Lust und Freude 
und aller Rraft zu verfolgen, ist der einzige 
Weg, das fernste zu erreichen. 
Hebbel
	        
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