GRIMM (WILHELM) — 306 — GRIMM (WILHELM)
Bibliothek zu Cassel und München, jene dem 8. Jahrh,
angehörig und auS Fulda, diese dem 9. Jahrh, ange
hörig und aus Freisingen stammend. An die casseler
Hanvschrift schließen sich unmittelbar, ohne damit in
irgend einem Zusammenhang zu stehen, die glossae
Castellanae, die sich in sieben Capitel theilen lassen,
von denen die sechs ersten die zunächst liegenden sinnlichen
Dinge aufzählen, das letzte aber einigermaßen zusam
menhängende Sätze enthält. Wilhelm Grimm untersucht
und erklärt nun mit ausgezeichneter philologischer Gründ
lichkeit die Sprache beider Denkmäler, und stellt bei den
casseler Glossen die deutschen Fingernamen ans den ver
schiedenen Zeiten, soweit er dazu gelangen konnte, zu
sammen, und knüpft daran eine Untersuchung über die
Bedeutung dieser Namen. Auf diese Untersuchungen
(S. 1—76 der Separatausgabe) folgen dann die Terte
(S. 71—79 ebenda), da auch ein Register zu den casse
ler Glossen (S. 80 — 87 ebenda), schließlich die Facsimi-
le's der Handschriften.
Den 16. Febr. 1846 las er in der Akademie: „Ueber
d ie d eut sch e n W ö rter für Krieg" (Monatsber. S. 50).
1848 lieferte er für Haupt's Zeitschrift 6, 321
—340: „Wisbadener Glossen" der heiligen Hildegard
aus dem 12. Jahrh.
1849 las er in der Akademie den 15. März: „Ueber
Freidank" (Abhandl. S.331 — 413) und den 29. Oet.:
„Altdeutsche Gespräche" (Abhandl. S. 415—436;
auch als Separatausgabe, Berlin 1851, erschienen), welche
Gespräche Fragen verschiedener Art mit den dazu ge
hörigen Antworten in deutscher und lateinischer Sprache
enthalten, von denen auch die casseler Glossen ein Stück
aufbewahrt zu haben scheinen. Wilhelm Grimm gab die
selben mit Erklärungen aus der vaticanischen Handschrift
heraus. Später erhielt er die Fortsetzung davon, die sich
in einer pariser Handschrift vorfand und die er als Nach
trag in der berliner Akademie am 3. April 1851 vortrug.
Den 7. März 1850 las er in der Akademie: „Zur
Geschichte deS Reimes" (Abhandl. S. 521 — 705;
auch als Separatabdruck, Berlin 1852, erschienen). Diese
umfangreiche, von ungemeiner Belesenheit, Genauigkeit
und Feinheit zeugende Abhandlung zerfällt in 22 Abschnitte
(ich bediene mich des Separatabdrucks): I. Ruhender Reim
(S. 1 — 54). II. Schlagreim (S. 54—58). III. Bin
nenreim (S. 58 — 59). IV. Uebergehender Reim (S. 59
—62). V. Mittelreim (S. 62—63). VI. Pausen (S.
63 — 66). VII. Körner (S. 66). VIII. Grammatischer
Reim (S. 67 - 68). IX. Gebrochener Reim (S. 68—69).
X. Ungenauer Reim (S. 69). XI. Doppelreim (S. 69
—80). XII. Erweiterter Reim (S. 80 — 96). XIII.
Anhäufung (S. 96—106). XIV. Leoninischer Reim
(S. 107 —160). XV. Lateinische Strophe (S. 160
— 166). XVI. Romanischer Reim (S. 166 — 168).
XVII. Reim in formlosen lateinischen Gedichten (S. 168
—169). XVIII. Tirades monorimes (S. 169 —171).
XIX. Einfaches Reimpaar (S. 172— 177). XX. Ur
sprung (S. 177— 182). XXI. Geschichtliche Fortbil
dung (S. 182—185). XXII. Gegenwart (S. 185
— 187). Register (S. 188—193). Er war auf diesen
wyiuiiuiiv vurcp lerne Untersuchungen über Freidank ge
führt, da sich ihm dessen Identität mit Walther durch die
Aebnlichkeit in Anwendung des Reims zu bestätigen sckuen.
Diese Schrift führt zu den wichtigsten Resultaten, insbe
sondere für die Kritik der Nibelungen, indem sich nun er
gab, daß der Reim ein vortreffliches Hilfsmittel sei, dw
unechten Strophen dieses Liedes von den echten auss
Genaueste zu scheiden.
Den 3. April 1851 las er in der Akademie: „Alt
deutsche Gespräche, Nachtrag" (Abhandl. 223—2o5;
auch als Separatausgabe, Berlin 1851, erschienen) und
den 14. Juli: „Ueber die Anhäufung des Reims
in altdeutschen Gedichten" (Monatsber. S. 447),
sowie den 13. November: „Nachtrag zu Freidanl
(Abhandl. 256—261).
Den 11. März 1852 trug er daselbst vor: „Atbis
und Prophilias weitere Bruchstücke" (Abhandl.
1-16).
Den 11. Januar 1855 las er daselbst: „Thier
fabeln bei den Meistersängern" (Abhandl. 1 — 27),
Überreichteam 1.November: „WilhelmWackernagels
geschichtlicher Entwurf der deutschen Glasmale
rei" und trug Bemerkungen dazu vor (Monatsber. S.
669), und laS: „Ueber Freidank, Zweiter Nach
trag." _
1856 gab er eine neue Bearbeitung des dritten Ban
des der Märchen heraus (die Vorrede ist vom 15. Mai),
sowie in Haupt's Zeitschrift 10, 1 — 142: „Marien
lieder", und 307 — 310: „Zwei Meisterlieder", und am
4. December berichtete er in der Akademie: „Ueber eine
Inschrift auf einem in der Walachei ausgegra
benen goldenen Ring" (Monatsber. 602).
Den 2. April 1657 las er daselbst über: „Die
Sage vom Polyp hem" (Abhandl. 1 — 30; ebenfalls
alö Separatauögabe, Berlin 1857, erschienen). In dieser
Abhandlung stellt er alle ihm bekannt gewordenen Ge
staltungen dieser Sage zusammen: 1. bei Homer, 2. in
dem französischen Roman Herberts (zwischen 1222 — 1228)
Li romans de Dolopathos, 3. bei den Oghuziern, einem
tatarischen Volk, 4. in den Reisen Sindbads, 5. in einem
serbischen Märchen, 6 in einer rumänischen Sage, 7. in
einer Sage aus Ehstland, 8. in einem finnischen Mär
chen, 9. in einer Sage aus dem russischen Karelien, 10.
in einer Ueberlieferung ans dem Harz. Er vergleicht
dann diese verschiedenen Darstellungen mit einander und
findet die älteste Gestalt der Sage in einem norwegischen
Märchen, wo sie im Geist uralter Dichtung aufgefaßt
ist und eine seltene Reinheit der Ueberlieferung zeigt.
Darauf geht er zur Deutung der Sage über. Das
Stirnauge ist ihm das Weltaüge, die Sonne selbst, und
ein Zeichen der göttlichen Abstammung der Titanen und
Kyklopen, und nach der nordischen Ueberlieferung erkennt
er als den ursprünglichen Sinn und Inhalt der Poly-
phemsage den in den Mythen von Riesen und Zwergen
ausgebildeten Gegensatz zwischen den äußeren, fruchtbaren
und den stillen, im Verborgenen wirkenden Naturkräften,
oder in sittlicher Beziehung zwischen roher Gewalt und
listiger Behendigkeit. — Darauf las er den 19. Oktober:
GRIMM (WILHELM) — 307 — GRIMM (WILHELM)
„Ueber zwei Berliner Handschriften des Rosen
gartens" (Monatsber. S. 431).
Den 14. Oct. 1858 gab er in der Akademie: „Nach
richt von dem Bruchstück einer aus der Meuse-
bachschen in die Berliner Bibliothek übergegan
genen Papierhandschrift des Rosengarten-Lie
des" (Monatsber. S. 463), und in dem in diesem
Jahre erscheinenden 11. Band von Haupt's Zeitschrift
veröffentlichte er S. 209—210: „Zum Freidank", S.
210 — 215: „Spanische Märchen", S. 238 — 243:
„Nochmals über Freidank", S. 243—253: „Bruchstücke
einer Bearbeitung des Rosengartens", S. 536—562:
„Der Rosengarten" (aus der Meusebach'scheu Bibliothek),
S. 594—595: „Holzschnitt zu einer Fabel."
Schon war die Bestimmung getroffen, daß er am
15. Dec. 1859 in der Akademie: „Bruchstücke aus
einem unbekannten Gedichte vom Rosengarten"
vortragen sollte, als ihn am folgenden Tage der Tod er
eilte. Dieselben wurden jedoch noch in die Abhandlungen
dieses Jahres S. 483—500 aufgenommen.
Zum Druck vorbereitet war auch die neue Ausgabe
des Freidank, und noch auf dem Krankenbett beschäftigte
er sich damit. Dieselbe erschien unter dem Titel: „Frei
dank von Wilhelm Grimm. Zweite Ausgabe.
Göttingen 1860." Neu entdeckte oder ihm erst zugänglich
gewordene Quellen hatten ihn aufgefordert, sich auf eine
abermalige Bearbeitung dieses Gedichts zu versuchen, um
auf dem angebahnten, aber noch immer schwierigen Wege
dem Ziele näher zu rücken. Diese Ausgabe ist ein ganz
neues Werk. Er legt jetzt ganz andere Handschriften zu
Grunde, als bei der ersten, nämlich die vordem brcmer
Handschrift (L), die wolfenbüttler Papierhandschrift (E)
und die salzburger Papierhandschrift (0). Vieles ward
jetzt aufgenommen, veffen Echtheit anzuzweifeln kein
Grund vorhanden war, dagegen das entschieden Unechte
wurde in die Lesarten verwiesen. In der Vorrede (III
—XXIV) gibt er über sämmtliche Handschriften die sorg
fältigsten Nachrichten, sowie über sein beobachtetes Ver
fahren. Die Einleitung der ersten Ausgabe ist weggeblie
ben, und so folgt dann sofort das Gedicht selbst (S. 1
— 114) nebst dem Anhang (S. 115—117) und den Les
arten (S. 118 — 289), und da auch die Anmerkungen
zu den einzelnen Sprüchen weggeblieben sind, so schließt
das Reimregister (S. 290—316) das Ganze.
Von seinem Antheil am Wvrterbuche, der mit D
begann, war schon oben (S. 263) die Rede; auch diesen
gedruckt zu sehen, war ihm nicht mehr vergönnt. „Alle
Leser", sagt Jacob Grimm in seiner Rede auf Wilhelm
(Kl. Schriften 1, 177), „werden die schöne Ausführlichkeit
loben, die mein Bruder den einzelnen Wortbedeutungen
gab und gern die oft ungleiche Behandlung der Ableitun
gen oder Wurzeln dulden, ohne daß hiermit ein Tadel des
einen oder deS andern Verfahrens ausgesprochen sein soll."
Darauf erschien dann noch von ihm 1865 im 12.
Bande von Haupt's Zeitschrift S. 185-203: „Die
Sage von Athiö und Prophilias", S. 203—228: „Die
mythische Bedeutung deS Wolfes", und S 228 — 231:
„Ueber eine Thierfabel des Babrius."
Wilhelm Grimm's Hauptverdicnst, außer seiner
deutschen Heldensage, der wol die Krone unter all seinen
Werken gebührt, besteht in seinen Ausgaben altdeutscher
Schriften. Seine Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt dabei
ist, wie schon vielfach erwähnt, wahrhaft bewunderungs
würdig, aber Eins ist noch besonders hervorzuheben, und
wir können dies nicht besser und eindringlicher als mit
den Worten eines anerkannten Forschers, Franz Pfeif
fer's, der a. a. O. 28 sagt: „Einen Tert kritisch zu be
arbeiten und ohne Sang und Klang in die Welt zu
schicken, den Lesern überlassend, sich damit, wohl oder übel,
zurecht zu finden, war nicht seine Sache; er hielt es viel
mehr, und mit Recht, für die Pflicht eines Herausgebers,
dem zu Tage geförderten Neuen auch zugleich den Schlüssel
zum Verständniß beizugeben. Fast alle seine Ausgaben
zeichnen sich durch lehrreiche Einleitungen und eingehende
wie sprachliche Anmerkungen vortheilhaft aus.' Diese
liebevolle Fürsorge und Hingabe an die Bedürfnisse der
Leser hat der Würde und dem Ansehen der Wissenschaft
keinen Eintrag gethan; im Gegentheil man darf sagen,
daß unter den deutschen Philologen zur richtigen Äuf-
faffung, zum tieferen Verständniß der Literatur des Mittel
alters und des ihm eigenthümlichen Lebens und Geistes
Wenige so viel beigetragen, Wenige diese neue Wissen
schaft, als deren Gründer er neben seinem Bruder und
Lachmann zu betrachten ist, so gefördert haben, wie die
Arbeiten Wilhelm Grimm's. Die Saat, die er ausge
streut, wird noch auf lange hinaus Früchte tragen."
Während Jacob Grimm, wie Vilmar a. a. O. be
merkt. die strenger abgeschlossene Gelehrtenwelt vertritt, so
vertrat Wilhelm Grimm mehr das, was man in früheren
Zeiten elegante Gelehrsamkeit nannte. Alles Glück beruhte
aber für ihn in der friedlichen Stimmung der Seele (s. S.
275), und dieser Seeleufriede wohnte in ihm: er weht uns
entgegen aus allen seinen Schriften und gibt ihnen ins
besondere ihren Reiz und ihre Weihe"). (A. Raszmann.)
kleineren Schriften Wilhelm Grimm's und ein Verzeichniß aller
seiner Beiträge zu Zeitschriften ic. zu besitzen, wie es bei Ja
cob Grimm der Fall ist. Auf eigene Hand habe ich demnach
daö über Wilhem Grimm zusammengestellt, was ich hier biete.
Sollte cs mir aber nicht gelungen sein, hinsichtlich der Necensio-
nen k. Vollständigkeit erreicht zu haben, so darf ich gewiß auf
Nachsicht rechnen, da ich drei Stunden voll der casseler Bibliothek
wol,ne, und darum auch uicht Alles, und so wie ich eö wünschte,
nachsehen konnte. — Ich kann aber nicht scheiden, ohne Einiges zu
dem Artikel Jacob Grimm nachzutragen, das mir erst nach dem
Druck aufgefallen ist, nämlich zu S. 177: „Ein Lcbensabriß Jacob
Grimm's, eigenhändig von ihm selbst abgefaßt und abgedruckt in
Hopfner und Zach er's Zeitschrift für deutsche Philologie 1, 489
— 491." Zu S. 191. In dem „Neuen Literarischen Anzeiger",
herausgegeben von Aretin, veröffentlichte Jacob Grimm ferner
1807: Nr. 23, vom 9. Juni, Sp. 368: „Anfrage", bctr. Otto
cken bogener. Nr. 24, vom 16. Juni, Sp. 383 fg.: „Anfrage",
Sebastian BrantS Weltbuch betr. Nr. 34, vom 25. August, Sp.
359. 360: ,, Anfragen und Bemerkungen " verschiedener Art. Nr. 47,
vom 24. November, Sp. 750. 751: „Lertoldo unck Markolph“.
Zu S. 234., In der Leipziger Literatur-Zeitung von 1822 Nr.
270. S. 2153 lieferte er: „Antikritik gegen die Necensiou der Silva
de romances viejos. Zu S. 268. Im I. 1857 lieferte derselbe
für den 5. Jahrgang von Frvmmann's Zeitschrift für deutsche
Mundarten S. 226 einen kleinen Beitrag über alles. Endlich zu
39*