© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z 6
jRotkäppchen leite zuist micklich
Wilhelm Qtimm, dec Sammlet deutschet TJläcchen, icaf jes m jemem Zlämiagdocl
In dem stillen, versteckten Wiepersdorf
im Fläming saßen im Schlosse des Grafen Achim
von Arnim zwei Männer bei eifriger Arbeit.
Achim und Brentano. Lange war der Graf
in der Gegend umhergewandert, hatte den Ge
sprächen der Mütter und Frauen gelauscht und
hatte sich von ihnen die Lieder und Verse aus
sagen lassen, die sie so oft ihren Kindern vor
gesungen. Ein kostbarer Schatz besten Volks
gutes war so zusammengetragen worden. Nun
waren Achim und Brentano dabei, das Gesam
melte zu sichten und zu ordnen. Nur selten
wurde die Arbeit unterbrochen, um einmal nach
Berlin zu fahren und dort Freunde zu besuchen.
Bei einem dieser Besuche in Berlin hatte der
Graf Bettina, die Schwester seines Mit
arbeiters Brentano, kennengelernt und sie eines
Tactes heimlich vor den anderen zu seinem
Weibe gemacht.
Tags darauf schon sah man einen geräumigen
Reisewagen dem Bärwalder Ländchen zupoltern.
Schneller als er war jedoch die Kunde von der
Vermählung des Grafen in das kleine Fläming
dorf gedrungen. Er aber war glücklich, daß ihm
auch dieses Vorhaben gelungen war und daß er
nun wieder mit ganzer Lust und allen Kräften
weiterarbeiten konnte, damit das Buch nur
recht schnell fertig werde. „Ausdes Knaben
Wunderhorn" sollte es heißen.
Zu Hause angekommen, konnte er kaum den
Augenblick erwarten, da er wieder an seinem
Schreibtisch sitzen konnte. Kaum aber war die
Arbeit in die Oeffentlichkeit gedrungen, kaum
hatte den Grafen das erste günstige Echo er
reicht, als er beschloß, einen lange angekündigten
Besuch bei den Gebrüdern Grimm auszuführen.
Bei den Gebrüdern Grimm
Es war das böse Jahr 1812 und doch auch
wieder das gute Jahr, denn es sollte der letzte
Abschnitt der Knechtschaft werden und alles
das, von dem der junge Graf und seine Freunde
schwärmten, sollte bald Wirklichkeit werden.
Auf dem Gut des Grafen war alles in Ord
nung. Die junge Frau fühlte sich wohl. und der
Graf hielt den Zeitpunkt für gekommen, zu den
Gebrüdern Grimm abzureisen. Er dachte, daß
er wohl auch bei ihnen manches für seine Arbeit
finden könne. Auf der langen Reise überlas er
bisweilen Verse aus „Des Knaben Wunder-
horn" oder er sang auch vor sich hin die Melo
dien wie „Maikäfer, flieg, dein Vater ist im
Krieg" oder „Lirum, Larum, Löffelstiel".
Als aber Achim von Arnim nach Kassel kam
und die erste Wiedersehensfreude alle Neuig
keiten mit Appetit aufgezehrt hatte, holten die
beiden Brüder Grimm einen großen Stoß
Blätter aus ihren Schubladen. Graf Arnim be
gann das Geschriebene zu lesen und wußte nicht,
daß er als erster die Sätze zu Gesicht bekam:
„Schneewittchen hinter den sieben Bergen bei
den sieben Zwergen" oder ^,Ach rüttle dich und
schüttle dich, wirf Gold uno Silber über mich."
sich von den Müttern und Großmüttern das er
zählen lassen, was man Märchen nannte. Nun
hielt der Graf die Schätze der deutschen
Seele in den Händen und las diese Herrlich
keiten zum erstenmal.
Es dauerte lange, bis der Graf von Arnim
alle Märchen gelesen hatte, die da zusammen
gekommen waren. Dann aber brach es aus ihm
heraus und er umarmte die beiden Brüder nach
einander und jubelte.,Zuletzt wurde er zornig,
als er hörte, daß Jakob Grimm erst noch weiter
sammeln wollte, der Vollständigkeit zuliebe.
„Wie?" rief Achim. „Ihr wollt damit noch
zurückhalten? Laßt dies alles nur schmll drucken,
damit um der Vollständigkeit willen die Sache
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bethen Brüder Grimm waren doch viele
f* lMesien umhergewandert und hatten
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Wilhelm Grimm dankte freundlich und fragte
es nach seinem Namen . * ,
am Ende nicht noch liegen bleibt." Das wollten
die Brüder Grimm denn auch, und Graf Achim
von Armm teilte ihnen erst jetzt zum Abschied
mrt, daß ihm seine Frau inzwischen einen
Knaben geboren hatte, der den Namen Frei
mund trug. Kinder und Märchen, gehörte das
ntcht zusammen?
D!e schönste Weihnachtsüberraschung
Graf Arnim war wieder in sein Fläming
dorf Wiepersdorf zurückgekehrt. Mit Planen
und Schreiben war der Herbst vergangen und
die Wochen vor Weihnachten heranüL^MWUen.
Da traf unerwartet mit dem Votj
von Jüterbog eines Tages ein !
Kassel ein. Als es Achim von Arnit
schien ein Buch und er hielt das sä,
nachtsgeschenk in Händen, das je ei
und ihrem Kind gemacht worden ist
e r st - B an d der d e u t s ch e n M«
die Widmung: An die Frau Elisabeth v. Arnim
für ihren kletnen Johannes Frermund.
Bei anderthalb Hundert waren auf diese Weise
dem Dunkel entrissen. Ein ganzes kleines Volk
war wie aus einer Verzauberung erlöst und
schickte sich an, in alle deutschen Häuser zu
kommen, wo staunende Kinder an den Weih
nachtsbaum traten. Rotkäppchen und Dornrös
chen, Schneewittchen und Däumeling, Hänsel und
Gretel und wie die lieblichen Gestalten sonst
heißen mögen, die bis dahin nur in den Spinn
stuben, in den traulichen Ecken der Ofenbänke
thr Dasein gefristet hatten. Sie erhielten nun
eine sichere Wohnung im Herzen der Nation.
So hielt am Weihnachtsabend die Gräfin
Elisabeth von Arnim das erste deutsche Märchen
buch in den Händen.
Begegnung mit Rotkäppchen und dem Wolf
Einige Jahre später hatte sich Wilhelm
Grimm zu dem versprochenen Besuch nach
Wiepersdorf aufgemacht. Oftmals saß er dann
vor dem Schloß in dem schönen Park und
überlas hier seine Märchen. Bereitete er doch
eine verbesserte Ausgabe vor.
Als er nun eines Tages gerade bei seinem
Märchen vom Rotkäppchen saß, hörte er
neben sich leichte Schritte, und sah beim Aus
blicken ein Mädchen vor sich stehen, das eine
rote Haube aufhatte, wie es im Fläming üb
lich war. Das Kind brachte ihm Kirschen.
Wilhelm Grimm dankte freundlich und fragte
es nach seinem Namen. Das Mädchen ant
wortete ihm, daß es die Tochter des Guts
försters wäre und Wolf heiße. Da mußte der
ernste Forscher denn doch lachen. Er sagte: „So
weiß ich denn nun wenigstens, wo Rotkäppchen
geboren wurde. Zu Wiepersdorf in der Mark»
Daher kam es, daß sich die Mär verbreitete,
Rotkäppchen hätte zu Wiepersdorf nicht
weit von Jüterbog in der Mark gelebt und
wäre dort geboren worden.
In dem Sinn, in dem auch Märchen wahr
sind. ist es richtig, daß die Gestalt des Rot
käppchens und des Wolfes nach dieser Begeg
nung in der verbesserten Ausgabe noch leben
digere Form annahm. Wer weiß zudem, ob es
dazu gekommen wäre, die Märchen der Deut
schen herauszugeben, wenn nicht der Graf
Achim von Arnim die Gebrüder Grimm immer
dazu gedrängt hätte.
Rotkäppchens Vater hatte auch einen Sohn,
der ebenfalls Wilhelm Grimm in der Zeit, als
er in Wiepersdorf wohnte, oft besuchte. Er
wurde ebenfalls Förster und genau 100 Jahre
alt. Gegen Ende des Weltkrieges ist er in dem
stillen Dorfe, wo Achim von Arnim und Bet
tina samt ihrem Sohne unter den steinernen
Sarkophagen im Park des Gutes schlafen, ge-
' rben.
dem stillen Wiepersdorf aber hat sich bis
^heutigen Tage die Sitte erhalten, alljähr-
mrmal eiM»Rotkäppchen-Feft zu
-- Adolf Ried.