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zu nennen beliebte; derselbe, der, als er später erkrankte, |
keine Krankheitsberichte erlaubte, weil er (so schreibt einer!
der Abgesetzten, der Historiker Dahlmann 1840 an Gervinus,
einer jener „Sieben") nicht wollte, daß „die Schwein
hunde (seine glücklichen Untertanen') sich über seine Krank
heit freuen sollten"; derselbe Potentat, der den Bau von
Eisenbahnen im Lande nicht zuließ, in der Befürchtung,
das; er dies neue Verkehrsmittel mit jedem gemeinen
Mann würde teilen müssen ...
Von Güttingen kehrten die Brüder Grimm wieder
nach Kassel zurück, wo sie bis zu ihrer 1841 erfolgten
Berufung an die Berliner Universität verblieben. Hier
ist Wilhelm Grimm am 16. Dezember 1859, also vor
einem halben Jahrhundert, gestorben, und es geziemt sich
wohl, hieran zu erinnern; denn in ihm verehren wir den
einzigartigen Märchenerzähler! Das ist jedoch nicht etwa
so zu verstehen, als sei er allein es gewesen, dem wir sie
Zu verdanken hätten. Jakob hat auch sein Teil daran;
gesammelt haben beide. In der Bltite der Kasseler Tage
sind die „Kinder- und Hausmärchen", nicht als das Er
gebnis einer systematischen Arbeit, sondern als eine der
Herausgegriffenerl Früchte allgemeiner und gemeinsamer
Tätigkeit gesammelt und gedruckt worden. Fretlich rührt
die Hauptmaffe der nachschöpferischen Leistung von Wilhelm
her; und somit stoßen wir auf die Frage nach der Ent
stehung der Märchen und wie sie dann ihre endgültige
Form und Gestalt erhalten haberl.
Ale deren geistige Urheber konrmen zu allerrlächst eine
Anzahl sinniger Frauen aus dem Kasseler Umgangskreise
der Brüder in Betracht. Wohl die überwiegende Masse
von Märchenstoffen ist aus der Apotheker Wild'schen Familie
zugestoßen. Da begegnen wir sechs Schwestern, unter
ihnen Dortchen, Wilhelm Grimms nachmaliger Frau.
Und diese wieder hatten manches den Erzählungen ihrer
Großmutter zu verdanken, die eine Tochter des berühmten
Philologen und Schulmanns Johann Matthias Gesner,
des Vaters der neuern lateinischen Wörterbücher, gewesen
war. Dortchen besonders empsing ihre Märchen aber noch
aus einer andern Quelle. Herman Grimm, ihr Sohn,
berichtet darüber: „Ueber der Wild'schen Kinderstube in
der Sonnenapotheke, mit ihren vielen Gängen, Treppen,
Stockwerken und Hinterbaulichkeietn, die ich selbst alle noch
als Ki'.ld dl'.rchstöbert habe, waltete die ,alte Marie', deren
Mann im Kriege gefallen war, und die jeden Abend aus
ihre»» ,Hannoverschen' ihr Abendgebet las. Von ihr hat
der erste Band der Märchen seine schönsten Stücke er
halten." Noch eine dritte Familie: die Haffenpftugs,
richtiger die zwei Schwestern des nachmals berüchtigten
Ministers Ludwig Hassenpslug, sind als Beiträgerinnen
vieler Märchen des ersten Bandes anzusprechen. Außer-
km werden noch aus der Familie Haxthausen nrehrere
Angehörige, die im Paderbornschen und in der Schwclm-
gegend ansässig waren, sowie auch der Romantiker Achim
von Arnim genannt. Der erste Band der „Kinder- und
Hausmärchen" erschien 1812; der zweite 1815. In der
Vorrede zu dieser Sammlung wird nun ein neuer Name
genannt: Frau Viehmänniu aus Zwehrn, einem dicht bei
Kassel gelegenen Dorfe. Sie hat das für den zweiten
Teil geleistet, was die „alte Marie" am ersten getan.
Es heißt da: „Ein guter Zufall war die Bekanntschaft mit
einer Bäuerin aus Zwehrn, durch welche wir einen an
sehnlichen Teil der hier mitgeteilten, darum echt hessischen
Märchen, sowie mancherlei Nachträge zum ersten Band
erhalten haben. Diese Frau, noch rüstig und nicht viel
über fünfzig Jahre alt, heißt Viehmännin, hat ein festes
und angenehmes Gesicht, blickt hell und scharf aus den
Augen und ist wahrscheinlich in ihrer Jugend schön ge
wesen. Sie bewahrt diese alten Sagen fest im Gedächtnis,
welche Gabe, wie sie sagt, nicht jedem verliehe:: sei.
Dabei erzählt sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig
mit eignem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann,
wenn man will, noch einmal langsam, so daß man ihr
nachschreiben kann. Manches ist auf diese Weise wörtlich
beibehalten. Wer an leichte Verfälschung der Ueber
lieferung, Nachlässigkeit bei Aufbewahrung und daher an
Unmöglichkeit langer Dauer der Regel glaubt, der müßte
hören, wie genau sie immer bei derselben Erzählung
bleibt und auf ihre Richtigkeit eifrig ist; niemals ändert
sie bei einer Wiederholung etwas in der Sache ab und
bessert ein Versehen, sobald sie es bemerkt, mitten in der
Rede gleich selber."
Irrtum wäre e3 aber, anzunehmen, es feien die
Märchen wörtlich den Erzählungen nachgeschrieben, die
unter den Leuten umgingen, so daß, wenn die Brüder
Grimm andern, später lebenden Sammlern nicht zuvor
gekommen uwiren, diese das „Eigentum des Volkes" ebenso
gut sich hätten aneignen können. „In der Gestalt," schreibt
ihr Sohn und Neffe Herman, „in welcher die Märchen
von Jakob und Wilhelm Grimm dem Volke dargeboten
wurden, sind sie erst dadurch, daß sie von i h n e n dar
geboten wurden, wieder zum Eigentum des Volkes ge
worden, denn vor der Grimm'schen Fassung waren sie das
nicht." Es sind oft verschiedene, bewährte Erzählungen,
die in den verschiedensten mittel- und süddeutschen Gegenden
eigentümlich sein mochten, zu einem Märchen verarbeitet
worden, was auch Wilhelm Grimm selbst im dritten,
wissenschaftlichen Baude vermerkt hat. „Hieraus schon er
hellt, wieviel sowohl auswählende als zusammenfassende
und redigierende Arbeit nötig war," meint sehr treffend
Herman Grimm, „um diejenige Form der Märchen zu
finden, in welcher die Kinder- und Hansmärchen zu einer
Sammlung geworden sind, welche dem Geiste des deutsche!'
Volkes fertig entsprungen zu sein scheint."
Für diese nachschopferische, schlechtweg ausgestaltende,
aufbauende Arbeit war aber gerade Wilhelm Grimm der
rechte Mann. Er hatte nicht nur den Drang, andern zu
erzählen, er erzählte auch mit dichterischer Anschauung und
war zugleich bestrebt, die Szenen zu Bildern für sich zu
gestalten. Jakob bezeugt es tu seiner leider nur als
Bruchstück erhalten gebliebenen Gedächtnisrede auf Wil
helm Grimm. Er spricht da von ihm als frohem Ge«
sellschafter, den jedermann gern sah und um „seiner an
mutigen Erzählungskunst" zu lauschen. So war's auch
mit feinen Arbeiten bestellt. Sie waren „durchschlagen
von Silberblicken", die Jakob „gestaudenermaßen nicht zu
standen" ; denn „seine ganze Art war weniger gestellt auf
Erfinden, als auf ruhiges, sicheres Jnsichausbilden".
In diesen Worten liegt der Schlüssel für die Er
klärung innerlichen Schönens, seiner im Grunde ge-
noinmenen poetischen, bildnerischen Natur; und die ist
den Märchen wohl zustatten gekommen. Und dank dieser
Gabe hat er ihnen, immer feilend und ausgestaltend,
allmählich die jedenfalls für unabsehbare Zeiten gültige
Form verliehen, die wir nunmehr als etwas hinnehmen,
das mit den vorgetragenen Märchen selber lebendig ver
wachsen ist.
Es wird wohl einmal so kommen, daß auch unsrer
Gegenwart die ihre technischen Errungenschaften allegorisch
und symbolisch deutenden Märchen erblühen. Anzeichen
hierfür sind vorhanden ; einzelnes ist bereits emporgesprossen.
Ans unbegrenzte Zeit aber werden die Grimm'schen „Kinder-
und Hausmärchen" in den Herzen der Kleinen weiterleben
— von Geschlecht zu Geschlecht. '