Full text: Zeitungsausschnitte über Jacob Grimm

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Der örtlichen Malwigfaltigkeit steht die zeitliche zur Seite. 
Hier zog Jacob Grimm mit scharfen Strichen die drei großen 
Perioden des Hochdeutschen: Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch/ 
und that die tiefsten Blicke in den Entwickelungsgang unserer 
Sprache überhaupt. Der alten Sprache/ und nicht blos der 
deutschen/ ist die sinnliche Fülle des Klanges, die Buntheit der 
volltönenden Endungen eigen, die im Lause der Zeit mehr und 
mehr abnimmt. Dem gothischen tuggönö entspricht unser 
Zungen, wir loben heißt auf Althochdeutsch 1opomo8, sie salb 
ten salpotun. An diesen volltönenden Lautgebilden des Go 
thischen und Altdeutschen hatte Grimm eine besondere Freude, 
und doch war er weit davon entfernt, diesen Sprachperioden 
den Vorzug vor jüngeren zu geben. Er erkannte vielmehr mit 
dem weiten Blicke .des Forschers, daß in der Zerstörung 
dieser schönklingenden aber schwerfälligen Formen ein Fortschritt 
liege, der Fortschritt vom Sinnlichen zum Geistigen , und daß 
jüngeren Sprachperioden durch bestimmtere Ausprägung des 
Wortgebrauches und durch die Gelenkigkeit der Formen reich 
lich ersetzt werde, was sie an Klangreichthum eingebüßt haben. 
Ein Lieblingsgebiet des Sprachlebens ist für Jacob Grimm 
die Welt der Laute. Für das Verständniß dieser Welt hat er, 
weit über den Bereich des Deutschen hinaus, schöpfe 
risch gewirkt. Indem sein Ohr mit innigem Wohlbehagen dcn 
mannigfaltigen Veränderungen' der Vokale lauschte, entdeckte 
er zwei von Haus aus verschiedene Arten lautlichen Wandels. 
Das Wort Vater lautet auf Althochdeutsch vatar, der 
Plural vetir. Der Grund der Veränderung liegt in dem i 
der zweiten Sylbe. Dieses i fordert die Verwandlung eines a 
der vorhergehenden Sulbe in das ihm näherliegende e, wodurch 
dann eine Art Harmonie zwischen den beiden Sylben hergestellt 
wird. Dieser Lautwandel, der sich erst weiter verbreitete, als 
die Quelle desselben, das i, schon meistens dem 6 gewichen war, 
nannte er Umlaut. Auf ihm beruht ein großer Theil unserer 
Plurale: Bruder Brüder, Land Länder und im Verbum 
unserer starken Conjugation nahm nähme, schob schöbe, 
fuhr führe. Ganz anderer Art ist ein zweiter, in der deut- 
scheu Sprache noch weiter ausgedehnter Vokalwandcl. Viele 
Wortstämme entfalten sich, wie Jacob Grimm es gern 
nannte, in einem Dreiklange: finde fand gefunden, Binde 
Band Bund, fließen floß Fluß, andere wenigstens in 
doppeltem Vokalklang: schreibe schrieb, ziehe zog. Wäh- 
rend jener erste Wandel einen äußeren Anlaß in dem Laut der 
Nachbarsylbe hat, scheint diesem eine innerliche Begründung bei- 
zuwohnen. Insofern hier eine Abstufung der Laute stattzufin 
den scheint, nannte Grimm diesen Wandel Ablaut. Er hielt 
ihn für einen uralten besonderen Schmuck der deutschen Sprachen. 
Das war nicht durchaus richtig/ die Wisienschaft faßt diese 
Dinge jetzt zum Theil anders, aber Grimm bleibt das 
Verdienst, auch hier wenig Beachtetes erschlosien, wichtige 
Unterschiede zuerst erkannt und mit fein ersonnenen Aus 
drücken präcis bezeichnet zu haben. Auf seinen »Ablaut« stützte 
Grimm nun auch seine Eintheilung der Verba. Solche Verba, 
welche Kraft genug besaßen, die Vergangenheit durch den Ab- 
laut auszudrücken, wie webe wob, falle fiel, sauge sog, nannte 
er, seiner Vorliebe für bildliche Ausdrücke gemäß, starke Verba, 
die übrigen dagegen, das heißt die große Mehrzahl, welche zu 
jenem Zweck gleichsam eines äußeren Mittels, nämlich einer 
angefügten, aus anderem Stamme erwachsenen Sylbe bedurfte, 
wie hege hegte, lobe lobte, sage sagte, suche suchte nannte er 
schwache Verba. Die erste Klaffe, bis dahin meist als unregel 
mäßig behandelt, erschien nun in dem Lichte der alterthüm- 
lichen, lebensvollen Bildungsweise. 
Noch viel durchgreifender und bleibender waren Grimms 
Entdeckungen für die Konsonanten. Hier konnte er zwar an 
wichtige Vorarbeiten des nordischen Sprachforschers Rask an- 
knüpfen, aber die volle Erkenntniß deffen, was man mit einem 
Grimmschen Worte Lautverschiebung nennt, bleibt sein Vcr- 
dienst, und darum gebrauchen die Engländer für dies Gesetz 
mit Recht den Namen Orlmm'8 Law. Da wo bisher 
eine beliebige Lautvertauschung stattzufinden schien, er 
kannte Jacob Grimm Gesetz und Regel. Daß das 
deutsche Vater daffelbe Wort mit dem lateinischen pater sei, 
hatte man längst eingesehen. Aber bis auf Jacob Grimm 
wußte Niemand zu sagen, warum aus pater nicht etwa 
daclor oder wacker geworden sei. Dergleichen hielt man für eine 
ganz willkürliche, zufällige Verwandlung. Für die Wisienschaft 
aber, die der geistigen so gut wie die der natürlichen Welt, giebt 
es nichts Zufälliges. Jacob Grimm erkannte, daß jedem p 
der verwandten Sprachen deutsches f oder v und nur dieses 
entspräche. Für unser zwei heißt es auf Sanskrit dva, auf 
Gothisch tvai. Jedes ursprüngliche ck verschiebt sich im Gothi 
schen und Niederdeutschen zu t, im Hochdeutschen zu 2. Wer 
Englisches oder Plattdeutsches ins Hochdeutsche übersetzt, 
übt fortwährend praktische Lautverschiebung: englisch ton, 
plattdeutsch tain, hochdeutsch zehn/ englisch ckoor, platt 
deutsch ckckr, hochdeutsch Thür. Wer, ohne beim Platt- 
deutschen aufgewachsen zu sein, Fritz Reuter oder Claus 
Groth liest, findet in diesen einfachen Regeln den 
Schlüssel zum Verständniß zahlreicher Wörter. Fast noch eigen 
thümlicher zeigt sich Grimm in der Wortforschung: Wie ge 
lingt es dem Menschen, wie gelingt es unserem Volke, die un 
endlich mannigfaltige Welt der Dinge durch jene tönenden 
Zeichen auszudrücken, die wir Wörter nennen? Alle Kräfte 
der Seele haben dazu mitgewirkt, aber keine so wesentlich wie 
die Einbildungskraft. Die Sprache ist durch und durch bild- 
lich. Das Leibhaftige und mit den Sinnen Wahrnehmbare 
dient als Bild des Geistigen und Begrifflichen. Auch das 
dichterische Schaffen besteht im Hinstellen und Gestalten bedeu- 
tungsvoller Bilder. Insofern kann man sagen, daß in der 
Bildlichkeit der Sprache die Poesie der Sprache enthalten ist. 
Es ist eine Poesie vor aller wirklichen Poesie, ein Dichten im 
Worte, noch nicht mit dem Worte. Zum Verständniß dieser 
Bilder gehört eine besondere Begabung, so wie die deutschen 
Märchen von Menschen erzählen, welche die Stimme der Vögel 
verstehen, und hier ist Jacob Grimm der Begabtesten einer. 
Wenn nach anderen Richtungen hin andere Sprachforscher ihn^ 
ebenbürtig sind, so steht Grimm im Erlauschen dieser in der 
Sprache verborgenen Volkspoesie unübertroffen da. 
Der Dichter weiß auch die unbelebte Welt zu beseelen, die 
Fabel läßt nicht nur Thiere, sondern auch Blumen und Bäche 
reden. So personifiziern viele Sprachen, darunter auch die 
deutsche, die natürlichen und geistigen Vorstellungen, indm 
jedes Wort sein Geschlecht erhält. Gott schuf, heißt es in der 
Genesis, den Menschen nach seinem Bilde. So gestaltet der 
Mensch die Dinge nach dem seinigen. »Das grammatische Ge 
schlecht«, sagt Jacob Grimm, »ist eine in der Phantasie der mensch 
lichen Sprache entsprungene Ausdehnung des Natürlichen auf alle 
und jede Gegenstände. Durch diese wunderbare Operation haben 
eine Menge von Ausdrücken, die sonst todte und abgezogene 
Begriffe enthalten, gleichsam Leben und Empfindung empfangen.« 
Offenbar sind die natürlichen und geistigen Eigenthümlichkeiten 
des männlichen wie des weiblichen Geschlechts der Grund, warum 
man dies Wort männlich, jenes weiblich faßte, und bietet um 
gekehrt das Fehlen jeder Vergleichbarkeit mit dem einen oder 
dem anderen die Erklärung dafür, das andere Wörter geschlechts 
los aufgefaßt wurden. Nicht zufällig ist der kräftige Fluß 
oder Strom männlich, die liebliche Quelle und die beweg 
liche Welle weiblich, der naffe Stoff aber, das Wasser, ge 
schlechtslos- Dem festen Baum steht die Gesicht und Geruch 
erfreuende Blume und Blüthe zur Seite, während das Holz 
so wenig wie das Eisen, das Silber, das Gold einer Per- 
sonifizirung werth geachtet wird, wohl aber der vernichtende 
Stahl. Von einer Nothwendigkeit kann hier nirgends die 
Rede sein, da die Phantasie eine bewegliche und in verschieden 
stem Sinne erregbare ist. Aber eben so wenig herrscht in diesen 
Dingen Willkür. Gewiffe durchgreifende Analogien hat Jacob 
Grimm mit seinem Sinn herauszutasten gewußt, und meister 
haft versteht er es, die Bedeutung der ganzen Erscheinung in 
helles Licht zu stellen. Die Geschlechtsbezetchnung steht in enger 
Beziehung zum Gökterglauben. Denn auch der Götterglaube 
beruht auf der Personifikation des Natürlichen. Wenn die 
Griechen die Flüffe als Götter verehrten, die Quellen als Nym 
phen, so geschah das offenbar aus demselben Grunde, aus dem 
sie die betreffenden Wörter einerseits männlich, andererseits 
weiblich gebrauchten. Himmel und Erde als ein Paar zu be 
trachten, aus deffen Ehebund die übrige Welt entsteht, ist eine 
uralte Anschauung. Aber eigenthümlich deutsch ist es, daß wir 
der Mond und die Sonne sagen und auch dies in der Sprache 
wie in der Sage, wo der Mond und die Sonne als Bruder 
und Schwester erscheinen. So läßt uns die Geschlechtsbezeich 
nung Blicke auch in die dem einzelnen Volke besonderen An 
schauungen thun. 
Gerade in diesen Dingen, die man das Klein- und Still 
leben der Sprache nennen kann, zeigt sich Grimm am größten, 
hier entfaltet er am meisten jene ihm in hohem Grade zu- 
kommende Eigenschaft, die wir mit dem in fremde Sprachen 
unübersetzbarem Worte sinnig bezeichnen. Denn von Allem, 
was Grimm gesagt und geschrieben hat, empfängt man 
den Eindruck, daß die Gedanken aus der eigensten Art seines 
Geistes und Gemüthes erwachsen sind. Wenn man von ihm 
in seiner -Geschichte der deutschen Sprache« durch Betrachtungen 
über Wörter und ihre Bedeutung in das frühe Leben der Hirten, 
der Ackerbauer, der Jäger eingeführt wird, wenn uns das 
Wörterbuch den mannigfaltigen Sinn eines deutschen Wortes 
— das wir kannten, und doch so nicht kannten — an fein ge 
wählten Beispielen ausweist, überall spüren wir den Athemzug 
des frischesten Geisteslebens, überall prägt sich jene innige Freude 
aus, mit der Jacob Grimm arbeitsvoll, doch mühelos den 
Gängen der deutschen Sprache nachgespürt hat. — 
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