Full text: Zeitungsausschnitte über Jacob und Wilhelm Grimm

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© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z4 
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zulocken. Gewöhnlich lauten die Annoncen, wie folgt: „Herr Brown, 
der berühmte Sportprophet, sandte letzte Woche seinen Abonnenten 
20 Gewinner in 25 Rennen re." Natürlich ist diese Angabe nicht 
wahr; aber das Publikum glaubt sie doch und sendet Herrn Brown 
seine Goldstücke. Als die Sportblätter der besseren Klasse sich wei 
gerten, Annoncen dieser Art weiterhin aufzunehmen, wußten die 
„tipsters“ auch diesen Schlag zu parieren. Jetzt überfluten sie jeden 
Hauseigentümer, dessen Name im offiziellen Postuachschlagebuche 
erscheint, mit ihren Cirkularen. Bemerkenswert ist, daß das schöne 
Geschlecht nicht wenig zum Erfolge der „tipsters“ beiträgt; unter 
ihren Abonnenten befinden sich zahlreiche Damen! Was die Kniffe 
anbetrifft, so wurde wohl der beste von dem Propheten geleistet, 
der in den Zeitungen ein Heiratsgesuch erließ, das angeblich von 
einer jungen Dame mit einer Mitgift von 100 000 Pfund Sterling 
herrührte. Jeder Heiratskandidat erhielt von der angeblichen 
Erbin •— das Cirkular des „tipsters“! 
Jedes der großen englischest Tagesblätter widmet täglich dem 
Rennsport mehrere Spalten, und jede Zeitung hält sich ihren 
„Pferdepropheten", der die mutmaßlichen Sieger in den Rennen 
tags zuvor voraussagt. Zuweilen werden diese Artikel von Jockeys 
geschrieben, die als Fachleute die „Form" der Renner am besten 
zu beurteilen imstande sind. Die Abendblätter machen es sich zur 
besonderen Pflicht ihren Lesern das neueste von der Rennbahn 
mitzuteilen, und ihre Spezialausgaben finden reißenden Absatz, da 
gegen fünf Uhr das Resultat der Wettrennen bekannt wird. Wenn 
die Zeitungsjungen um diese Stunde mit ihren Blättern und dem 
schrillen Rufe: „All the winners!“ („Sämtliche Gewinnet!") durch 
die Straßen eilen, dann wird es einem erst recht klar, wie sehr der 
Engländer am Wettfieber leidet. Die Jungen verkaufen ihre Bündel 
im Handumdrehen; die Käufer aber schauen nur in die Sports 
spalte und werfen dann das Blatt weg; der übrige Inhalt hat 
kein Interesse für sie. Selbst die Sonntagsruhe, die beut Eng 
länder doch so heilig ist, wird z. B. bei Gelegenheit des Pferde 
rennens um den „Grand prix de Paris“ durch die Rufe der 
ZeitungsVerkäufer entwürdigt. Um diesen: Treiben ein Ende zu 
machen, hat sich eine Antiwettgesellschaft gebildet, die selbst gegen 
den mächtigen Jockeyklub, dem der Prinz von Wales angehört, zu 
Felde zog, aber nichts ausrichtete und nur zur Folge hatte, daß sich 
die Sportsmänner ihrerseits zusammenthaten und eine „Sporting- 
liga" ins Leben riefen, die den Schutz des Sports bezweckt. Und 
da England nun einmal das gelobte Land der Bereinssüchtigen ist, 
entstand über Nacht ein dritter Verein, der die „Wahrung der 
Interessen der Buchmacher" auf seine Fahne geschrieben hat. Es 
bedarf wohl kaum der Vereine, um den englischen Nationalsport 
und das englische Nationallaster zu schützen — die große Mehrzahl 
der Engländer huldigt beiden. 
'DG 
Das Geburtshaus der Brüder Grimm. 
Nachdruck verboten. 
Alle Rechte vorbehalten. 
Von Louise <<iies. 
n dem Augenblick, da Hanau a. M., die 
Geburtsstadt der Bruder 
Grimm, sich anschickt, das 
diesen gewidmete Denkmal 
fcierlick) zll enthüllen, wer 
den vielleicht auch weitere 
Kreise gerne erfahren, wann 
und wie das Geburtshaus 
Jacob und Wilhelm Grimms 
zuerst aufgefunden wurde. 
Bis züm Jahre 1858 
hatte man sich nämlich merk 
würdigerweise selbst in Ha 
nau wenig mit demselben 
beschäftigt; allgemein galt. 
dafür ein in der Langstraße 
gelegenes einstöcki ges Wohn 
haus, welches sich in den 
fünfziger Jahren im Besitz 
des Sanitätsrates Dr. Gies, 
meines Vaters, befand. 
Es lebten damals noch 
genug alte Leute, die sich 
zu erinnern glaubten, daß 
der Herr „Stadtschreiber Grimm" (der Vater des Brüderpaares) zu Ende 
des vorigen Jahrhunderts mit Frau und kleinen Kindern in dem be 
sagten Haus, Langstraße Nr. 1l, gewohnt habe. Und dabei hatte man 
sich beruhigt. 
Nuu war in den fünfziger Jahren, nachdem das verflossene, stürmisch- 
politische Jahrzehnt zur Ruhe gekommen, ein besonders reges wissenschaft 
liches Leben und Streben erwacht: der erste Band des Grimmschen 
Wörterbuches lvar erschienen, und die Augen der gesamten gelehrten und 
gebildeten Welt waren daraus gerichtet. So mußten die Brüder Grimm 
eines schönen Abends wohl besonders lebhaft in dem „Litterarischen Verein" 
zu Hanau besprochen worden sein, denn die Verhandlung endigte damit, 
daß meinem Vater viel scherzhafte Vorwürfe gemacht wurden, wie er die 
Ehre, das Geburtshaus der Brüder Grimm zu besitzen, gar nicht hoch 
genug anschlage, wie es eigentlich an ihm sei, etwas zu deren Verherr 
lichung zu thun u. s. w. 
„Daran soll's nicht fehlen," sagte mein Vater, und da es gerade 
Anfang Dezember des Jahres 1858 war, so wurde beschlossen, zunächst 
am konlinenden 4. Januar 1850, dem Geburtstag Jacob Grimms, abends 
über unserer Hausthür ein erleuchtetes Transparent anzubringen mit der 
Inschrift: „In diesem Haus wurde am 4. Januar 1785 Jacob Grimm 
geboren." 
Es dauerte auch nicht lange, da stand das Transparent fix und fertig 
in unserer Hausflur, war eingepaßt in den Rahmen über der Hausthür, 
und nichts fehlte, bis auf die Kerzen zur Beleuchtung. Ich fühle noch 
den Stolz und das Entzücken, womit insbesondere wir Kinder dem großen 
Tag entgegensahen, wie wichtig wir lilis allen anderen Menschen gegen 
über vorkamen. Wie bitter sollten wir enttäuscht werden! 
Es war nur lioch kurz vor dem festlichen Tag, als eines Abends ein 
Freund meines Vaters, DvktorJung, hastig angestürzt kam mit der Botschaft: 
„Doktor, es ist ein Irrtum, die Grimms sind nicht in Ihrem Haus 
geboren. Wir haben noch einmal nachgeforscht und eine alte Base der 
Familie Grimm aufgefunden, ein Fräulein Höhn, welches ausgesagt hat, 
ihr Vetter, der Herr Stadtschreiber Grimm, habe zuerst mit seiner jungen 
Frau an dem Paradeplatz in dem jetzigen Polizeigebäude gewohnt, und 
hier seien die älteren Söhne Jacob und Wilhelm geboren. Erst später 
sei die Familie in Ihr jetziges Haus gezogen." 
Man denke sich unseren Schrecken! Ans allen Himmeln waren wir 
jungen Leute gefallen! Das schöne Transparent, die festliche Beleuchtung, 
die gaffende Volksmenge, die große Ehre, die wir geträumt hatten: alles 
stürzte wie ein Kartenhaus zusammen! 
Mein Vater war indessen nicht der Mann, eine solche Sache leichten 
Kaufs aus der Hand zu geben. Gewohnt, jedem Ding auf den Grund 
zu gehen, entschied er alsbald: „Es wird an Jacob Grimm selbst ge 
schrieben und um Auskunft gebeten. Heute noch schreibst Tu mir nach 
Berlin," schloß mein Vater, indem er sich an mich wandte. 
Der Brief wurde noch selbigen Tages aufgesetzt, auf rosa Papier 
abgeschrieben und dann, nachdem ihn mein Vater geprüft hatte, abge 
sendet. Wenn ich heute noch erröten will. über eine Jugendthorheit, dann 
ziehe ich aus dem verborgensten Fach meines Schreibtisches das sogenannte 
„Brouillon" oder Konzept dieses Schriftstückes hervor und lese es durch: 
naiver ist wohl selten ein großer Mann angeschwärmt worden! 
Trotzdem erhielt ich eine Erwiderung, eine eigenhändige und liebens 
würdige Erwiderung, die in eingehendster Weise unsere Frage erörterte. 
Bei der Enttänschnng blieb's freilich, denn Jacob Grimm bestätigte, 
>vas schon die Base Philippine Höhn erklärt hatte: daß er und sein Bruder 
in dem großen Haus am Paradeplatz oben (dem heutigen Landratsamt) 
geboren seien. 
Nun war die Sache klar, kein Zweifel mehr möglich, und betrübten 
Herzens sahen wir das Transparent in eine entlegene Kammer hoch oben 
im Hause wandern. Es zu vernichten, konnten wir uns doch nicht ent 
schließen. 
So hart und bitter uns die Sache ankam, so hatte sie doch für die 
Oeffentlichkeit ihr Gutes; die allgemeine Aufmerksamkeit war rege ge 
worden. Die städtische Behörde ilahm die Angelegenheit in die'.Hand, 
stellte noch weitere Nachforschungen an, und das Endergebnis war, daß 
in den folgenden Jahren das Landratsamt zu Hanau feierlichst für das 
Geburtshaus der Brüder Grimm erklärt und mit einem Medaillonbild 
geziert wurde, welches — die Initiale oben bietet die Abbildung die 
Reliefköpfe Jacobs und Wilhelms zeigt. 
Für mich aber schloß sich an jene hübsche (eigentlich traurige) Be 
gebenheit dock) noch ein kleiner Briefwechsel mit dem berühmten Mann, 
der den jugendlichen Ueberschwang der Gefühle übersah und sich an den 
Kern hielt. Mein Vater ließ eine Photographie des Landratsamtes an 
fertigen, die ich nebst Kirchenbuchauszügen wieder an Jacob Grimm 
schicken durfte, nicht ohne ein entsprechendes Geleitschreiben meinerseits. 
Daran reihten sich freundliche Sendungen von Berlin an mich, Bilder, 
Reden, die Märchen und vieles andere, Dinge, die mir mit den Jahren 
mehr und mehr zu Reliquien wurden. 
Zum Schluß möchte ich den ersten an mich gerichteten Brief, welcher 
die Frage des Geburtshauses behandelt, im Wortlaut und in der eigen 
tümlichen Orthographie des Gelehrten mitteilen. Derselbe lautet: 
..Diebe fräulein Luise, 
Sie haben mir so zutraulich geschrieben, dasz ich gleich zu der 
vorstehenden anrede berechtigt bin; ich will auf Ihre frage alles ant 
worten, dessen ich mich entsinnen kann. allerdings bin ich in dem 
jetzt von Ihnen bewohnten hause, in der langen gasse neben dem
	        

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