Full text: Zeitungsausschnitte über Jacob und Wilhelm Grimm

© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z4 
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ihr, was sie sonst machen sollte, da konnte sie eben nichts thun 
als weinen. 
Lisbeth tröstete sie, hieß sie das Tuch von den Augen nehmen 
und Feuer anmachen und versprach, selbst zu kommen lind mit Hand 
anzulegen. Dieser Zuspruch wirkte Wunder. Auguste versicherte, 
es sei ihr jetzt schon ganz leicht ums Herz, und Lisbeth wandte sich 
von ihr weg dem Krankenzimmer zu. 
„Tritt naher, Lisbeth," sagte die junge Frau mit bebendem 
Ton, „ich will Dich umarmen. Ach, mein geliebtes Herz, wie 
danke ich Dir — nun weiß ich Mann und Kind und die arme 
kranke Mutter geborgen, da Du bei ihnen bist!" 
„Nun, Getrud, wir wollen uns Mühe geben, daß sie alle 
bald wieder Deiner Sorge unterstellt sind. Sei nur recht ruhig 
und denke nicht an die augenblickliche Kalamität, sondern erquicke 
Dich an dem Gedanken, wie sich Dein Glück und Dein Reichtum 
vergrößert hat! Ist es denn frisch und kräftig, Dein Baby?" 
Die Kranke nickte und ein mattes Lächeln flog über ihr 
Gesicht, das in dem schwachen Schein des Nachtlichtes bis 
auf die fieberroten Wangen weiß erschien wie die Kissen, in 
denen sie lag. 
„Es ist zu niedlich," flüsterte sie dann, „und es sieht 
Arnold so ähnlich, sogar der blonde Haarbüschel lockt sich schon 
jetzt auf der Stirn, wie bei ihm." 
„Nun, siehst Du, es ist Dir leicht gemacht, an Heiteres zu 
denken. Jetzt lege ich Dich auf die Seite und Du versuchst ein 
lvcnig zu schlafen. Mit dem Süppchen, das ich Dir kochen werde, 
komme ich dann und wecke Dich." 
„Und Arnold? Ich glaube, seit Mütterchen liegt, hat er noch 
nichts Vernünftiges zu essen bekommen." 
„Bekommen wohl, aber aus Sorgen um Dich nichts ge 
gessen. Nun sei aber darum ruhig, jetzt ist das meine Sache, 
mein Schatz!" 
„Lisbeth!" 
„Was isfis, Trudchen?" 
„Ich möchte Dir gern noch etwas sagen." 
„Später, Liebste, jetzt ruhe Dich aus von der Aufregung, in 
der Du Dich den ganzen Tag befunden. Ich will nun sehen, daß 
die Deinen zu ihrem Recht kommen." 
Nach einer halben Stunde zeigte sich die Lage des Hauses 
Römer schon wesentlich gebessert. Die Kranken hatten ihr Süppchen 
genossen, und wenigstens die Frau Rektor schlief fest und sanft, 
während Arnold im Gefühl, daß jetzt jemand feine Sorgen mittrug, 
ruhiger geworden war und leichter geneigt schien, Lisbeths Trostes 
worten zu glauben. 
So brachte die Nacht Frieden und Ruhe für die verängstigten 
Gemüter und der Sorgenbrecher Schlaf vollendete die Wohlthat 
der Natur und schloß allen die Augen. 
Nur Lisbeth wachte. In einen Lehnstuhl gedrückt saß sie an 
Gertruds Bett, hielt die fieberheißen Hände der jungen Fran 
in den ihren und betrachtete mit stummem Schmerze dieses in 
den wenigen Tagen so verfallene Gesicht. Die Kranke stöhnte, 
warf sich hin und her, focht mit beit Händen in der Luft und 
murmelte leise Worte. Endlich, nach einigen angstvoll ver 
brachten Stunden, öffnete sie plötzlich die Augen, sah Lisbeth mit 
leeren Blicken an und schloß sie daun wieder, um nach einigen 
Minuten mit dem Ausdruck völligen klaren Bewußtseins' sie wieder 
aufzuschlagen. 
„Lisbeth!" 
„Ich bin's, Trudchen, wünschest Du etwas?" 
„Ja, ich muß zu Dir reden, lasse mich sprechen, sonst finde 
ich keine Ruhe!" 
„Sprich, mein liebes Herz!" 
„Lisbeth, ich werde sterben, ich fühl's." 
„Liebste Gertrud, ist es nicht unrecht, Dich durch solche 
Gedanken aufzuregen! Du wirst in wenigen Tagen frisch und 
gesund fein — der Arzt Hafis noch abends Deinem Manne 
versichert." 
„Nein, Lisbeth, täusche Dich nicht er irrt- hier sitzfis" 
sie legte ihre schmale Hand auf die Brust „ich werde nie mehr 
frisch und gesund sein. Aber Lisbeth ich fürchte mich nicht. 
Jedem Menschen ist sein Teil Glück zugemessen — mir ist ein 
vollgeschüttelt Maß geworden— nun gehe ich—mag auch Arnold 
glücklich werden —" 
„Aber, Gertrud — Gertrud!" 
„Ja, es ist so, Lisbeth. — Er ist der beste, der edelste der 
Menschen —er hat mich namenlos glücklich gemacht in den Jahren, 
da ich ihm angehörte und jetzt erst — habe ich begriffen — 
daß er es nicht ist. — Er nahm mich an sein Herz, weil er sah, 
wie grenzenlos ich ihn liebte das feine gehörte einer anderen, 
gehörte ihr von Jugend an — gehörte ihr ganz allein. 
Sei ruhig, Lisbeth, halte still - laß mich ausreden! — Deiner 
Mutter Stolz hatte ihn so tausendmal aufs bitterste verletzt, und 
daß Du nur dulden, nicht handeln konntest, ließ ihn an Dir zweifeln. 
Er glaubte wohl, er bezwinge sein Herz leichter, wenn er sich 
Pflichten auferlege — aber Lisbeth — er hat es nie bezwungen — 
! nie - —- niemals " 
Der Freundin Antlitz war blasser fast als das der Kranken, 
als sie sich nun über sie beugte. 
„Mein armes Herz," sagte sie sanft, „Du fieberst, Du 
phantasierst, mache Dich los von diesen bösen Träumen. Ich 
will Dir ein Schlückchen Wasser geben und Dich höher betten, viel 
leicht kannst Du dann besser schlafen!" 
„Ich phantasiere nicht, Lisbeth, jedes Wort ist überlegt, 
das Du gehört. Ich habe Gott immer gebeten, daß ich es 
Dir sagen darf, und er hat es mir gegönnt. Ich null kein 
Versprechen — ich will auch keinen Wunsch äußern — nur sagen 
wollte ich Dir, was ich gesagt habe, Dir ganz allein — und 
nun ich das gethan, bin ich ruhig — ganz ruhig — nun werde 
ich auch schlafen!" 
Lisbeth nahm sie schweigend in ihre Arme, richtete die Kissen 
höher, reichte ihr den erfrischenden Trunk und fetzte sich wieder 
! ihr zu Häupten. 
„Gieb mir die Hand, Lisbeth!" 
Diese nahm die kleine, fiebernde Hand der Freundin in die 
ihren, die so kalt waren, als wären sie innerlich erstarrt. Wie das 
Blut in dem schwachen Körper jagte und glühte, wie jeder Puls 
schlag driu käinpfte mit dem dunklen Ueberwinder Tod! Gott — 
Gott — nur dieses nicht — nur dieses nicht! Stundenlang faß 
sie so, ohne sich zu regen, ihre Glieder wurden steif durch die un 
bewegliche Stellung, eisige Schauer flogen über ihren Leib, sic 
merkte nichts, dachte nichts, fühlte nichts als die Angst, die Todes 
angst um das junge, fliehende Leben der Freundin. Und immer 
noch ging der Atem so heiß mtd schnell über die heißen Lippen, 
immer noch drang der röchelnde Ton aus der Tiefe der Brust, 
und wenn die nur halbgeschlossenen Augen sich plötzlich öffneten, 
war es ein leerer, verständnisloser Blick, der auf Lisbeth fiel. 
Endlich ging die qualvolle Nacht zu Ende — ein blasses 
Frührot tauchte schon im Osten auf — da spürte sie die heiße 
Hand kühler werden, auch die fieberroten Wangen erblaßten all 
mählich, die Glieder streckten sich, und wie die Lider tief und fest 
über die Augen fielen, verwandelte sich diese zitternde, fiebernde 
Bewußtlosigkeit in die tiefen, langen, regelmäßigen Atemzüge einer 
Schlafenden. 
Der Arzt, der am Morgen seinen Besuch machte, war äußerst 
überrascht und erfreut. 
„Das gnädige Fräulein ist als ein rettender Engel hier er 
schienen, ich habe kaum auf diesen günstigen Ausgang gehofft." 
„Darf ich ihr, wenn sie erwacht, ihr Kindchen bringen?" 
„Nein, keinesfalls. Sie wird aber auch nicht danach ver 
langen: ihre Mattigkeit wird so groß fein, daß sie noch längere 
Zeit keinerlei Interesse verrät." 
Und so war es auch. Fast immer lag die junge Frau in 
festem Schlaf und dieser wechselte dann mit leichtem Schlummer 
ab. Sie ließ sich Nahrung einflößen, öffnete wohl auch die Augen 
und begrüßte mit einem freundlichen Blick oder einem liebevollen 
j Worte ihre Umgebung, um daun wieder in den dämmernden Halb 
schlaf zu sinken. 
Im ganzen Hause hörte man keinen lauten Ton, alle Glocken 
waren abgestellt, die Uhren angehalten, man bewegte sich nur lang 
sam und leise, sprach nur flüsternd und zitterte schon vor jedem 
Geräusche auf der Straße, das diese verheißungsvolle Ruhe stören 
könnte. So gingen viele, viele sorgenvolle Tage und Nächte 
hin: endlich an einem Morgen erwachte Gertrud mit völlig klaren 
Augen und rief Lisbeth zu sich heran. 
„Ich lebe wieder, Lisbeth!" 
„Dem Himmel sei dafür gedankt, mein Liebling!" 
„Ja, ich will ihm danken jeden Tag und jede Stunde. Ach, 
ich lebe ja so gern! Und Deiner treuen Sorge, Lisbeth, verdanke
	        

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