Full text: Zeitungsausschnitte über Jacob und Wilhelm Grimm

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© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z4 
aus 
Hannoversche Landeszeitung, 
1872, Okt. 21, S. 2 - 3 
Nr. 247, 
P Wiederum Gervinus. 
Es giebt Zeitfragen, welche eine herrschende Partei 
um jeden Preis todtzuschweigen oder todtzuschlagen 
entschlossen ist, und die sich dennoch immer wieder noch 
lauter und noch kräftiger regen. Die Partei meint eine 
solche Zeitfrage durch ihre bekannten Mittel schon hun 
dertmal aus der Welt geschafft zu haben: und immer 
kehrt sie desto unwiderstehlicher 
Partei heute das gegen alle ihre 
zurück. Während die 
Erwartung noch lebende 
Wesen endlich in ein tiefes Grab versenkt zu haben sich 
einbildet, sieht sie sich morgen sogar selbst verdantmt, 
es dennoch wieder aufzurütteln. Die Todten gehen um, 
die Gespenster kommen gerufen und ungerufen. 
So ist es mit meinem unvergeßlichen Freunde 
Gervinus. - Warum trat der Mann 1866 nicht aus 
die Seite der Liebhaber der Dinge jenes Jahres? 
warum schwieg er dann nicht wenigstens vor ihnen? warum 
schallt seine Stimme eben jetzt noch nach seinem Tode in ganz 
neuer grausiger Weise in ihre Ohren? So fragte man 
vom Frühlinge 1871 bis zum Frühlinge 1872 an tau 
send Orten in Deutschland zugleich. Aber sofort er 
huben sich auch tausende jener Liebhaber, so unan 
genehme, ja grausige Fragen und Stimmen niederzu 
schreien. Ganz dieselben, welche den herrlichen Mann 
bis 1866 über alles was er that und was er schrieb 
aufs Höchste gelobt hatten, zogen ihn nun in den Staub 
und meinten dadurch jene unliebsamen Fragen zu 
ersticken. Auch traten ja inzwischen eine Menge so 
ganz neuer schwerer Erscheinungen auf die deutsche 
Schaubühne und kamen jenen Liebhabern von einer an 
dern Seite her so dienstreich zu Hülse, daß die Frage 
über Gervinus wirklich bereits zur Ruhe gelegt schiert. 
Da steht eben jetzt am 10. October einer jener Lieb 
haber in der Cottaischen Allgemeinen Zeitung auf, urn 
die Frage über Gervinus dennoch wieder ins Leben zu 
rufen. Dieser neue Schreiber scheint wirklich ein wenig 
herzinniger zu sein. Es ist als ob er fühlte, daß seine 
eigene Partei mit dem einst so viel geliebten Manne zu 
rauh und zu unverständig verfahren sei: wiewohl er 
sich hütet, dieses offen zu sagen oder auch nur an 
zudeuten. Aber als mißbillige er ernstlich seine eigene 
Partei, die Nationalen, so versucht er jetzt mit einer 
neuen Kunst das höchst Unangenehme zu beseitigen. 
Er nimmt die feinste Klügelei und die süßeste Nede 
zu Hülse, und beginnt so mit den zartesten Worten: 
Zwei Mal sangen auf dem schönen Friedhofe zu 
Heidelberg die Nachtigallen von Wonne und von 
Weh, zuin zweiten Rial spielt der Herbstwind 
mit ben fallenden Blättern — und wer im ganzen 
deutschen Lande wollte nicht sagen, daß längst 
der peinliche Mißklang ausgehallt, der bei Ger 
vinus' Hingange nur eben erst zu verklingen 
beganit? 
Wie zärtlich unb wie süß! aber auch wie vorsichtig 
und übervyrsichtla, verkehrt undunwahr! Was ist denn 
dieser peinliche Mißklang, welchen der Schreiber kaum 
zu berühren wagt und doch berührt? Sind es nicht 
alle die Dinge von 1866 mit allen ihren Folgen? 
Und dieser Mißklang soll int Mürz 1871 zu verklingen 
begonnen, jetzt aber ausgehallt sein? Woh^ wetß in'»’ 
Mann beides und wie tvill et das beweisen, da alle 
Zeugnisse, welche hier gelten können, ohne Ausnahme 
gegen ihn sind? Allein es paßt eben zu semem Zwecke, 
seme ganze lange Rede sogleich mit so unwahren Worten 
zu beginnen. 
Aber wie er mit dieser Unwahrheit beginnt, so 
bletbt er bei der Macht und dem Zuge der Unwahrheit 
seme ganze Rede hindurch. Er wendet sich nämlich vor 
Allem nur Gervinus' großem Werke über die deutsche 
Dichtung zu, und tvill betveisen, dieses mächtige Werk 
habe etne nattonalpolitische Bedeutung, welche künftig 
troch immer mehr anerkattnt werden werde. Da dieses 
nun Gervinus' Hauptwerk ist und ihn sein ganzes Le- 
bett hindurch beschäftigte, so ist damit für diesen finger 
gewandten Schreiber der Beweis fertig. Gervinus'sei 
sein ganzes Leben hindurch bis zu seinem Tode einer 
von uns gewesen, ein Nationalliberaler. Das Wort 
National hat seit der französischen Revolution zwar 
sehr vielen Deutschen ■ den Kopf verrückt, und ver 
rückt ihtt cun meisten den heutigen Revolutionssüchtigen 
in Deutschland, wie sie seit dem Neujahrstage 1859 
siiid. Aber während Gervinus dieses Wort aus der 
Aufschrift der letzten Ausgaben seines großen Werkes 
sogar in seiner unschuldigen Bedeutung gänzlich strich 
und wohl darati that, soll er nach diesem Berlinisch 
gesinnten sein ganzes Leben hindurch ein heutiger Na- 
tionalliberaler gewesen sein, und die Dinge von 1866 
gelobt haben, die er bis zu feinem letzten Lebensathem 
so verurtheilte, wie man dieses urkundlich weiß? Zst 
es des Unsinttes genug? ja des gelehrten Unsinttes, der 
im Namen der Wissenschaft also mit vollkommener 
Kenntniß der Urkunden gelten will! 
Allein die Krone setzt dieser hochgelehrte Schreiber 
seinem Werke erst auf, indem er am Schlüsse weissagt, 
auf den „Gemälden zur Schmückung des künftigen 
Reichstagshauses" werde unter den Männern, „die für 
die deutsche Einheitsbewegung hervorragend wirkten", 
neben dem bekannten Treitschke — Gervinus strahlen! 
Warum nicht auch neben Tezel Luther, als die beiden 
Gründer der deutschen Reformation? neben dem Hallischen 
Klotz (der vor hundert Zähren als ein sehr geistreicher 
Mann von Göttingen nach Halle gerufen wurde) Les 
sing ? neben Kotzebue Schiller und Uhland? Man tröste 
sich über Gervinus' letzte und schwerste Lebensleiden 
und vergebe ihm seine deutschen Sünden: er kommt 
bald neben Treitschke in die deutsche Ruhmeshalle! 
Aber dieser Einsall ist nicht einmal neu. Man 
kann im Vorsaale des jetzigen Reichstagshauses unter 
den Köpfen von zwölf Deutschen, welche ihm zur Zierde 
dienen sollen, neben einem Mathv und. dem verwirrten 
kränklichen Paul Pfizer — Uhland sehen. Denselben Uh 
land, dessen lebenslängliche Gesinnung über Preußen 
keinem einzigen Deutschen verborgen ist! Die Sache 
ist und bleibt jedoch diese, daß, während in den noch immer 
auch für unsre neueste deutsche Zeit entscheidenden Zäh 
ren 1847 und 1848 Männer wie Uhland und Stüve 
schon zu lange gelebt und gewirkt hatten, um Preußen 
nicht schon damals vollkommen richtig zu kennen, Ger 
vinus eben damals noch etwas einen jugendlichen Irr 
thum über es theilte, von dem er gerade durch die 
Zahre 1848 und 1849 schon aus das Vollständigste ge 
heilt wurde. Und nichts werden die Freunde der Wahr 
heit stets so sehr an ihm lieben, als diesen und jeden 
andern Fortschritt zur immer reineren Vollkommen 
heit, und die edle Selbstverläugnung, wo es darauf 
ankommt dem besser Erkannten treu zu folgen, oht < 
deshalb auch nur ein Zipfelchen der schon frühe, 
erkannten Wahrheit zu opfern. 
Aber unser Cottaischer Schreiber mag von alle 
dem nichts wissen. So will ich denn solchen Versuchen 
alle geschichtliche Wahrheit auch bei Gervinus umzu 
kehren gegenüber hier ausdrücklich bemerken, daß mein 
unvergeßlicher Freund in allen den vielen sowohl münd 
lichen als schriftlichen Berührungeti, welche ich auch seit 
1866 mit ihm hatte, beständig ebenso redete und dachte.
	        

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