© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z4
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Herr Felsenthron der Mpenriesen gebreitet hatten — erst mit der Sonnen
wende schwanden die letzten Zeichen ihres unholden Regiments — dann
ragten die bleichen Dolomitgipfel wieder unvrrhüllt über den Nadelwald
der Halde, der heiter blaue Himmel weckte in mir die Wanderlust, und mit
lasche und Stab verließ ich in fteudiger Stimmung das gastliche Pfarr
haus zu Kämpen um die Wälder und Schluchten nahen Schiern, den
grünen Tann des Heldenlieder zu durchstreifen.
Statt der staubigen Landstraße wählte ich einen schmalen theilweise
von Robinien beschatteten Nebenweg, der in gerader Richtung mit der
Bahn am linken Eisackufer bis zur ersten Haltestelle führt. Wo der Fels
-an den Rand des FluffeS tritt, durchbricht ein Tunnel das Porphyrmasfiv
um dem Dampfroß freie Bahn zu lasten, gegenüber krönen Strebepfeiler
mit zierlichen Fialen und altarähnliche Vorsprünge die aschfarbige Halde;
graue oder gelbe Streifen — die Rinnsale der Regenfluthen— geben dem
eintönigen Grund ein reichere- Gepräge. Seit Eröffnung der Brenner-
Dahn wird die altberübmte Heerstraße von Landbewohnern, Arbeitern,
Wanderburschen und Touristen, von Gendarmen, Vagabunden und Hirten
nur spärlich belebt; der Personen-und Waarenverkehr ist auf de» Schienen
weg übergegangen, der als kürzeste Verbindung zwischen Deutschland und
Italien, dem Baltischen und Adriatischen Meer die Bedeutung einer Welt
straße gewonnen hat.
Hier und da umranken Rebenpflanzungen die Höhen, Buschwerk und
Nadelholz bedecken das verwitterte Gestein; auf weiten Sttecken bilden
nackte Felsen die Uferrahmen, Steingeröll und Schotter erfüllen die Rinn
sale der Wildbäche, und nur wenige Ansiedelungen erfreuen durch Saaten
und Aehrenfelder das Auge. Bevor man die bedeckte Holzbrücke bei Steg
überschreitet um an der Osthalde des Eisack in Zickzackwindungen nach
Völs aufzusteigen, erblickt man durch die Einsattelung einer unwirklichen
Schlucht die stufenförmigen Absätze der Hammerwand, den runden in
Schatten gehüllten Gipfel der Schlern, und gegenüber, auf dem Ritten,
den Thalriß des Finsterbachs, in besten Bett ein Hügel unterhalb der
Phramidengruppe das Trümmerwerk des Schlöffe- Stein wie einen Adler
horst auf öder Klippe trägt. Der Gang auf dem schlecht gepflasterten
Bergpfad ermüdete mich, die Rast auf durchglühte« Fels brachte wenig
Erfrischung, und das schattige Gehölz der Mittelhöhe schien immer in der
selben Entfernung zu bleiben. Aus dem Dickicht des Wäldchens ertönten
Männerstimmen: ein Völser Bauer und sein Sohn waren mit der Ent
laubung der Bäume beschäftigt: dieser löste die Aeste von den Wipfeln,
jener schnitt Blätter und Nadelgewebe von den Zweigen und schichtete das
Reisig in Haufen. „Grüß Gott, Bauer! weßhalb raubt Ihr den Bäumen
Das Geäst?" „Der Sommer ist trocken, Wiese und Weide ohne Gras, und
mein Vieh bedarf Futter!" „Ihr beschneidet aber auch das Nadelholz."
„Zur Streu- und Düngergewinnung!" „Schaut einmal die verkümmerten
Föhren, die krüppeligen Eichen und den dürren Felrboden an; seht Ihr
nicht daß daS Schneiten den Wald zu Grunde richtet?" „O nein, Herr,
hie Bäume finden in den Steinlammsrn und kahlen Felsen doch keine
Nahrung, die Föhren bleiben niedrig, die Eichen werden wipfeldürr, ob
ich sie ausputze oder wachsen laste; auf diesem unfruchtbaren Boden ge«
deiht einmal kein Nutzholz." Daß erst die übermäßige Beraubung deS
Waldes und die Wegräumung der Pflanzendecke den Boden ausgedörrt,
Den Wuchs der Bäume beeinträchtigt habe, daß die jammervolle Beschaffen
heit des HolzeS nur eine Folge der verderblichen Waldwirthschaft sei
— diesen Zusammenhang deS Thatbestandes wollte der fleißige Friedrich
Flitzer nicht anerkennen. Ob Mangel an Einsicht über die Bedingungen
zum gedeihlichen Wachsthum der Holzpflanzen, oder die Unfähigkeit Ur
sache und Wirkung in folgerichtige Verbindung zu bringen und die ganze
Etufenreihe der Entwicklung — von der Abholzung steiler Felswände bis
zu den furchtbaren Überschwemmungen der Flüste — mit einem Blick zu
überschauen, den Tiroler Landmann in der sorglosen Verwüstung seiner
Wälder fortschreiten läßt, mag dahingestellt bleiben; thatsächlich haben
weder die schätzbaren Aufklärungen der „Tiroler Stimmen" über natur
gemäße Forstwirthschaft noch die danken-werthen Anregungen der Statt
halter ei zur Schonung und Wiedererzeugung gelichteter Wälder, weder
Die schönen Erfolge welche einzelne Gemeinden durch künstliche Anpflan
zungen erzielen, noch die Verwüstungen abgeholzter Flächen durch Schlamm-
«nd Schuttmuren einen heilsamen Emfluß auf diesen wichttgen Zweig der
Volk-wirthschaft geübt: nach wie vor wird der Mantel de- Llpenwaldes
zerrissen, die Pflanzendecke des Gebirges zerstört, immer massenhafter kahles
Western in den bewaldeten Hängen bloßgelegt. Welche lohnende Aufgabe
für die Volksschule den Kindern daS Verständniß für die Wirksamkeit deS
Waldes in dem Haushalt der Natur zu erschließen, und welcher dankbare
Stoff für die katholischen Vereine statt unftuchtbarerZustimmungSadreffen
Die Grundsätze zweckmäßiger Bodencultur zu berathen und zur Durchfüh
rung zu bringen!
Noch einmal schaute ich nach den durchsichtigen Reihen des Gehölze-,
in besten Wipfeln daS ttaurigs Werk der Zerstörung unaufhaltsam fort
gesetzt wurde, sah Ast auf Ast mit grünem Gezweige zur Erde fallen, die
schlanken Spieren mit lichten Kronen trauernd sich im Winde neigen, und
wandte mit schmerzlichen Gefühlen das Auge von dem trüben Bild um
meinen Weg weiter zu verfolgen. Ein lauter Ruf und das Geräusch
hastiger Schritte hemmten meinen Gang. Der Völser Bauer war in.
athemlosem Lauf mir nachgeeilt und ries mich, mit beiden Händen winkenD,
zurück. „Sie haben den rechten Weg verfehlt, der Steig nach Völs führt
über meinem Wald auf die Höhe." In der That war ich achtlos an der
Verzweigung des Pfades vorübergegangen und nur durch die Aufmerksam
keit deS Bauers vor einem weiten Umwege bewahrt worden. Dieser schöne
Zug des Mannes versöhnte mich mit seinen einseitigen Anschauungen, und
ließ mich wieder die wundersame Mischung von trefflichen Eigenschaften
und Vorurtheilen, herrlichen Anlagen und Irrthümern erkennen, welche
dem Charakter der Tiroler Landbevölkerung ein merkwürdiges Doppel-
gepräge gibt.
Formenreichthum des Gebirges, Wechsel der Beleuchtung, Glanz deS
Himmels, Durchsichtigkeit der Luft und die wundervolle Verklärung der
blauen Fernen in dem Dufte der Dämmerung verleihen den Alpenbildern
einen eigenartigen Reiz; aber nicht Worte und abstracte Begriffe ver
mögen den Zauber einer Landschaft zu enthülle» die uns die Poesie dev
Alpenwelt zur Anschauung bringt. Nur wenn die Elemente der Natur
mit den Organen der Seele in unmittelbare Wechselwirkung gerathen, er
zeugen sich die Ideale des Schönen, und nur auf empfänglichem Grunde
tritt das Lichtbild sichtbar hervor. In farbigen Wellenringen lag die Hoch
ebene von Völs vor meinem Auge ausgebreitet, zur Rechten von einem
runden mit der ehrwürdigen Peterskirche gekrönten Hügel, im Hintergrund
von dem Dolomitriesen Schlern begränzt, mit Häusern, Häuschen, Baum-
und Wiesengrün, mit Feldern, Wäldern und den altersgrauen Dächern
des Dorfs, eine Steintreppe führte mich auf den.castellartigen, mit Grab
steinen, Kreuzen und einer unscheinbaren Capelle besetzten Friedhof, der
das dreischiffige in gothischen Formen aufgeführte und mit einem wunder
samen Sandsteinportal verzierte Gotteshaus umschließt und von einer
Gruppe stattlicher Sleingebäude eingerahmt wird, unter denen die Pfarr-
wohnung durch Größe und bunten Anstrich bedeutsam hervorragt, wäh
rend daS nebenstehende Gasthaus „zum Kreuz" durch gute Einrichtung
und treffliche Küche den Wanderer erfteut. Milde Wärme und die sonnige
Lage der Dorfs auf dem fruchtbaren Mittelgebirge zwischen Eisack und
Schlern haben Völs zu einem Sommerfrischorte für Bozener Bürgersamilien
gemacht; die Straße nach Ums geht unter dem Rundbogen eines HauseS
hindurch, das dem Schloßherrn von Prösels und Besitzer von Anroni bei
Bozen Jahr für Jahr einige Monate lang zum angenehmen Aufenthalt
dient. Obstgärten und Wiesen mit Baumgruppen ziehen sich von dem
Ring des Dorfs nach allen Richtungen über den wellenförmigen Boden;
der Ansitz Zimmerlehen und die Burg Prösels locken zu Ausflügen in die
Umgegend, und die Steilwände des Schlern fesseln durch kühnen Aufbau
den Blick.
Kirche und Schulhaus von Völs liegen nahe beisammen. Der junge
strebsame Lehrer und Organist genießt in seinem Doppelberuf die Achtung
deS Pfarrers und der Gemeindeglieder, und entwickelte über die Dtreitftage
zwischen Staat und Kirche ein so gesundes Urtheil, daß ich den Grund
zügen seiner Anschauung allgemeine Verbreitung wünschen möchte. Kirchen
dienst und Unterricht erfüllen ihn mit Freude , die gesteigerten Anforde
rungen des Staats stimmen mit seiner Neigung für geistigen Fortschritt
überein; das bescheidene Einkommen von 260 Gulden beftiedigt seinen
genügsamen Sinn. Auch in Völs ist Mißstimmung über die Aenderung
der Schulaufsicht hervorgetreten; indeß konnte die Schulprüfung ohne
Störung abgehalten, das neue Lesebuch ohne Widerspruch eingeführt und
der Lehrplan auf Geschichte, Natur- und Erdkunde ausgedehnt werden,
obwohl die Bauern den Unterricht ihrer Kinder auf Lesen, Schreiben,
Rechnen und die Glaubenslehre beschränkt wissen wollten. „Dieselbe»
Bauern," äußerte Hr. M., „welche mich üm Anfertigung schriftlicher Be
richte bitten, weil ihnen die Befähigung zu dieser Arbeit fehlt, erkläre»
eine gründliche Schulbildung ihrer Kinder für überflüssig und erblicken i»
der Einführung weltlicher Aufsichtsbehörden eine Gefahr für den katholi
schen Glauben, während der Geistliche nach wie vor den Religionsunter
richt in der Schule leitet und die neue Gesetzgebung sogar einen Vortheil
haften Einfluß auf die Befestigung des Glaubens übt." „In welcher
Weise äußert sich diese günstige Wirkung der staatlichen Reform?" „So
lange die Geistlichkeit unbestrittene Herrin der Schule war," fuhr der Ge
nannte fort, „das Verhalten der Lehrer in allen Beziehungen nach ihrem
Sinn bestimmen konnte, hatte sie kernen Anlaß bei der Ausübung ihrer
Pflicht besondern Eifer zu bethätigen, mit ängstlicher Genauigkeit über
me Jnnehaltung der vorgeschriebenen Stundenzahl zu wachen; die Mini»
perialverordnung vom 10 Februar 1669 hat ihr dagegen Anregung zu er-