© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. Z4
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von Oesterreich und Frankreich, und zwar gegen den Willen von Preußen,
ja geradezu in preußenfeindlicher Absicht. Preußen war damals bereit
Oesterreich zu Hülfe zu eilen. Es verlangte nur daß vorher die deutsche
Frage geregelt werde — ein Verlangen das selbst der gewiß nicht preu«
ßenfteundliche französische Schriftsteller Victor Cherbuliez vollkommen be«
gründet und gerechtfertigt findet. Oesterreich wies dieses Verlangen zu»
rück. Es intriguirte in Frankfurt a. M, es versuchte Preußen durch Len
Bundestag zu majorisiren. ES verschmähte die von Preußen angebotene
Hülfe eines Bundesgenossen, und verlangte von ihm die Heeresfolge eines
Vasallen. Es wollte lieber eine Provinz verlieren als sich mit Deutsch
land und Preußen verständigen. DaS ist es was Jacob Grimm den
Schluß seines Lebens trübte. Nicht gegen Preußen, sondern gegen Oester
reich ist sein Tadel gerichtet. Zwischenzeitig haben wir uns mit Oester
reich auseinandergesetzt; leider war dieß nicht möglich ohne einen Waffen
gang. Aber stehen wir nicht heut' in einem weit klareren Verhältniß zu
Oesterreich als vor zehn Jahren, da wir mit ihm um die Hegemonie in
Deutschland stritten? War es nicht bester wir vollzogen erst unser Eini-
gungswerk und boten dann erst Oesterreich die Hand, als daß wir den
Dualismus aufrecht erhielten, der das Einigungswerk und folglich auch
di? Verständigung mit Oesterreich unmöglich machte? Wird dieß nicht
auch gerade von den Deutschen in der österreichisch-ungarischen Monarchie
anerkannt? Hat doch erst dieser Tage die am 15Januar 1871 zuMarburg
in Steiermark abgehaltene steierische Landesversammlung der deutsch-na
tionalen Partei einstimmig beschlossen: „Im Augenblick ist eine verfas
sungsmäßige oder staatsrechtliche Verbindung zwischen Deutschland und
Oesterreich noch nicht möglich; denn sie würde das deutsche Einigungswerk
stören, an besten Zustandekommen wir Deutsch-Oesterreichec das größte
Interests haben,' jedenfalls aber erscheint, so lange eine staatsrechtliche
Verbindung nicht möglich, ein engstes Zusammengehen Oesterreichs mit
Deutschland erwünscht." Will nun Hr. Gervinus am Ende auch die
braven Deutschen in Steiermark zu den „abgefallenen politischen Licht
trägern und Freiheitshelden" rechnen, welche, wie ec sich so gewählt aus
drückt, „zttm Theilsitz auf den Herrscherthron der Machtpartei hinauf
fielen?" (Ist es ein Verbrechen wenn eine politische Partei nach politischer
Macht strebt?)
Wenn also Jacob Grimm 1859 klagte: „die deutschen Hoffnungen
seien heruntergekommen," so haben sich diese deutschen Hoffnungen gerade
1870 erfüllt. Wenn er es 1859 bedauert „daß unser Verhältniß zu Oester
reich wieder viel unsicherer geworden," so sind wir gerade gegenwärtig näher
als jemals an dem Ziele ein den gemeinsamen Jnteresten der beiden großen
Staatskörper entsprechendes Zusammengehen derselben zu erreichen. Und
darob sollten uns die Manen des Jacob Grimm zürnen? Ec, der deutscheste
der Deutschen, sollte uns grollen weil wir 1667 die nationale Wehrkraft
zusammengefaßt und dadurch, und nur dadurch, 1670 einem frevelhaften
Angriff gegenüber Erfolge erzielt haben welche uns die Einheit und Un
abhängigkeit Deutschlands, nach der zwei Generationen vergeblich gerun
gen, dauernd sichern? Und darob sollte sich Jacob Grimm vor Jammer
im Grab herumdrehen? Vielleicht wird uns Gervinus, welcher ja auch
behauptet Deutschland entbehre der Redefreiheit, die dermale:: in Frank-
re ch unter Gambetta so herrlich florire, darauf entgegnen: der Angriff von
1870 würde ohne die Ereignisse von 1866 nicht erfolgt sein. Allein dieß
wäre ein Irrthum. Auch ohne „Sadowa" war der Kaiser der Franzosen
stets bereit uns mit Krieg zu überziehen, sobald er es zum Zweck der Er
haltung seiner Dynastie nöthig fand; und der französische Heißhunger nach
dem Rhein stammt auch nicht von 1666, sondern ist von weit älterem
Datum.
Hiermit ist, dünkt mir, das einzige Beweisstück welches Gervinus
beibringt entkräftet. An einer Stelle scheint er sich auf Dahlmanns Sohn
berufen zu wollen, an einer andern auf Dahlmanns Biographen. Allein
er bringt von keinem derselben irgend etwas bei, während es doch notorisch
ist daß der Biograph mit ganzem Herzen auf der Seite der von Gervinus
verketzerten nationalen Entwicklung steht, und daß der Sohn während
seiner politischen Laufbahn ein Gesinnungsgenoffe derer war welche Hr.
GervinuS jetzt „abgefallene Lichtträger" nennt. Denn zu letzteren muß
er doch auch die preußische Fortschrittspartei zählen, welche ja ebenfalls die
Ergebniste von 1866 und 1867 im wesentlichen acceptirt und als gemein
same Grundlage der nationalen Zukunft anerkannt hat. Mit besserem
Recht als Hr. Gervinus auf jene, könnte ich mich auf Hrn.Herman Grimm,
den Sohn W. Grimms und den Neffen I. Grimms, berufen. Hr.
Herman Grimm, welcher sich mit Vater und Oheim in Uebereinstimmung
weiß, hat noch kürzlich, in Gemeinschaft mit nationalgesinnten Freunden,
das Gemeindebevollmächtigten Collegium in München wegen eines im
Sinne des sich jetzt vollziehenden Einheitswerkes gefaßten Beschluffes tele
graphisch beglückwünscht. Sollte das Hrr». Gervinus vielleicht nicht be
kannt sein?
Doch genug. Nicht ich bin es der Geister beschwört, damit sie nach
ihrem Tode das Gegentheil von dem sagen was sie bei Lebzeiten verkündet.
Die Beweislast trifft nicht mich der bestreitet, sondern Hrn. Gervinus
welcher behauptet.
Also der selige Geist Grimms soll vor Jammer vergehen wegen der
Annexionen; denn durch sie seien selbständige Stämme vernichtet. Aber
repräsentirte denn das „Kursürstenthum" Heffen, oder das „Herzogthum"
Naffau einen deutschen Volksstamm? Ist nicht dieses „Herzogthum" von
Napoleon I aus 29 verschiedenen Lappen zusammengeflickt worden zu
Gunsten eines seiner rheinbündlerischen Vasallen, der sich nicht scheute aus
diese Art durch den ausländischen Despoten seine „Mitfürsten im Reiche,"
welche ihm nichts zu leide gethan, für sich berauben zu lassen? Ist nicht
jenes Kurfürstenthum Heffen aus Niedersachsen, Thüringern und Chatten
zusammengesetzt? Und fällt nicht die volle Hälfte des chattischen Stammes
anderen Territorien zu? Und ist durch Herstellung der deutschen Einheit
dieser Gesammtstamm der Chatten, welcher bisher durch die territorialen
Gränzen getrennt und zerrissen war, nicht wieder zu seiner früheren vollen
und untheilbaren Existenz zurückgekehrt? Weit entfernt vernichtet zu sein,
ist er ja jetzt erst recht wieder ein lebensvolles Glied des deutschen Volks-
körpers geworden. Haben denn die Chatten seit 1866 aufgehört „auf ihren
uralten Sitzen zu haften?" Haben sie nicht ihrem alten Kriegsruhm
neue Lorbeeren hinzugefügt? Haben sie nicht dießmal als freie Männer
des großen deutschen Heerbannes in echt altchattischer Ehre und Wehre für
Deutschland gefochten, während sie früher gleich Hammelheerden nach frem
den Welttheilen verschachert wurden, und ihr Tyrann sich ihres Nieder
gangs freute: denn je weniger Chatten zurückkehrten, desto mehr Pfund-
Sterling oder Ducaten erhielt er. Was mit einem Federstrich in seinem
Dasein vernichtet wurde, dar ist nicht der edle und tapfere Volksstamm
der Chatten, welcher nun wieder wie ehedem unter Kaiser und Reich steht
und daneben seine eigenen Angelegenheiten zu Hause selbständ-g
verwaltet, sondern die Dynastie Brabant, welche den aus jenem
Blutgeld gebildeten Staatsschatz, den Preußen bereitwillig heraus
gab, dem Lands mit tausend Rechtswidrigkeiten und Chicanen vor
enthielt. Keine der neuen und keine der alten Provinzen ist absorbirt
worden. Preußen ist nicht Frankreich, Berlin nicht Paris. Oder glaubt
etwa Hr. Gervinus behaupten zu können: Pommern, Schlesien, Rheinland
oder Westfalen hätten, dadurch daß sie preußisch wurden, ihre provincielle
Individualität eingebüßt? Im Gegentheil, sie haben dieselbe nur um so
schärfer ausgeprägt und um so kräftiger entwickelt; und wahrlich, diese Ter
ritorien kann man doch mit weit größerem Rechte „selbständige Stammkör
per" nennen a's jene weiland kleinen deutschen Landgrafschaften, welche
damals aus nichts bestanden als aus einem Herrn und seinen Lakaien.
Hc. Gervinus ergeht sich schließlich in ausführlichen Erörterungen
über Föderalismus und Unitarismus. Er gesteht zu daß Dahlmann „über
den Erlebniffen von 1837 und den Hoffnungen von 1848 unitarisch ge
worden." Ich acceptire dieses Geständniß. Den Beweis daß Dahlmann
später der entgegengesetzten Meinung geworden, hat Hr. Gervinus zu
führen nicht einmal versucht: und bei einem Mann von so eiserner Uebee-
zeugungstreue und von so ruhig-gelassenem Herzen, bei einem politischen
Denker von solcher Consequenz, auf welchen sein Biograph mit vollem
Recht den schönen Vers des SiliuS Jtalicus anwendet: „Laetaviro gravitaa
mentisque amabile pondus.“ ist doch ein derartiger Gesinnungswechsel
wohl schwerlich zu vermuthen.
WaS den Vorwurf des UnitarismuS anlangt, so paßt er in der That:
herzlich schlecht auf die Ergebniffe des Jahres 1870. Dieses Jahr hat —
darüber kann für jeden welcher die Verträge mit den Südstaaten, aus denen
sich die neue Reichsverfassung aufbaut, auch nur halbivegs kennt — auf
eine geraume Zeit hinaus nicht zu Gunsten des Unitarismus, sondern zu
Gunsten deS Föderalismus entschieden. Deutschland ist nicht Einheils-,
sondern Bundesstaat geworden. Es wird letzteres um so länger und um
so sicherer bleiben, je weniger die einzelnen Glieder des Reiches bestrebt
sind sich ihrer Pflichten gegen das Grnze zu entschlagen, und je weniger
sie sich zurücksehnen nach jener Schein-Souveränetät vergangener Zeiten,
in welchen sie nicht vollberechtigte Theile eines kräftigen, blühenden und
geachteten StaatS-OrganismuS, sondern polizeilich geknechtete Heloten
zuerst des französischen Rheinbundes und dann des verachteten Bundes
tags waren.
Aber auch auf die Ereignisse seit 1866 paßt jener Vorwurf durchaus
nicht. Seit jenem Jahre sind in Deutschland die umtausche und die
föderalistische Bewegung stets nebeneinander hergelaufen, und eine jede
derselben war bestrebt sich desjenigen Gebietes zu bemächtigen welches ihr
die schönsten Früchte zu versprechen schien.
Es ist wahr, wir haben die Gesammtwehrkraft Deutschlands möglichst
einheitlich zusammengefaßt. Will man uns deßhalb „Centralisten" nennen
— wohlan, wir lasten uns eS. gefallen, denn eS gereicht ja dem Vaterlands