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W. K. Grimm.
erstenmale sein Haus betrat, und über die bequeme Treppe
und das oft beschriebene Salve in sein Zimmer gelangte. Je
mand, den wir früher oft und genau in mannigfachen Bil
dern angesehen, ist uns nicht fremd und überrascht uns doch;
in der Wirklichkeit liegt noch eine Macht, von der die Kunst
nichts weiß. Er äußerte Theilnahme für die Bemühungen
zu Gunsten einer lang vergessenen Literatur und Geneigtheit
sie zu unterstützen, wie mir denn auch späterhin durch seine
Fürsprache die Benutzung einiger Codd. der dortigen Biblio
thek gestattet wurde. Ich bin während meines Aufenthalts
in Weimar, wo Madame Schoppenhauer ein ebenso glan
zendes als angenehmes Haus machte, und mich auf das gü
tigste empfieng, noch einigemal bei Göthe gewesen, habe ihn
in der Eigenthümlichkeit seines Wesens gesehen, seine Rede
gehört. Ich glaube, ihn selbst gesehen zu haben, ist zu dem Ver
ständnisse seiner Gedichte ungemein förderlich. In ihnen ist
dieselbe Mischung der großartigsten, reinsten und edelsten Na
tur, die ein sinnvoller Mensch sogleich anerkennt und verehrt,
und jener höchsteigenthümlichen, besondern Bildung, deren Gang
man nur zuweilen erräth. Erregt doch auch der wunderbare Blick
seiner Augen ebensowohl das vollste Zutrauen, als er uns
ferne von ihm hält. Wenn in einer Zeit eine nationelle Ge
sinnung herrscht, mag es von geringerer Bedeutung seyn, die
Persönlichkeit des Dichters kennen zu lernen, der den Charak
ter des Volks in höchster Blüthe darstellt; anders verhält es
sich, wo eine solche Nationalität fehlt und ein Geist, je grö
ßer er ist, desto freier und kühner, innern, unausmcßbaren
Bedürfnissen gemäß sich entwickelt und bei höherem Aufstei
gen immer einsamer sich fühlen muß. Man findet diese Einsam
keit, meine ich, in den meisten seiner Werke, und das An
sprechendste und Einleuchtendste mit dem Seltsamsten und Fremd
artigsten verbunden. Aus diesem Verhältniß wird auch das
Verlangen unserer Zeit gerechtfertigt, die Geschichte der Bil
dung eines ausgezeichneten Mannes zu erfahren, die oft das
Verlangen nach dem unmittelbaren Genuß seiner Werke übersteigt.
Das Jahr 1809 kann ich als den Wendepunkt betrachten,
wo meine Genesung anfieng. Sie schritt jedoch nur langsam
vorwärts, und die Anfälle von Herzklopfen kehrten zurück,
wiewohl seltner und minder heftig; doch von Jahr zu Jahr
fühlte ich mich besser, und etwa im Jahre 1815 schien mir
der Zustand meiner Gesundheit im Vergleich zu dem früheren
selbst ein Wunder. Der kurze Athem, der Druck auf der
Brust war nach und nach verschwunden, ich konnte frei und
tief athmen, mich an einem von Beängstigung erlösten Schlaf
erquicken und schon, während ich sonst unfähig war, eine