Full text: Biographien von Jacob und Wilhelm Grimm

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W. K. Grimm. 
den Bericht anhörend, die großen, blauen Augen unverwandt 
auf mich richtete. Er war eine große Gestalt und in den 
festen, fast scharfen Gesichtszügen lag zugleich etwas Mildes, 
in seinem ganzen Wesen aber die Sicherheit und volle Ueber 
zeugung, die bei einem Arzte so sehr das Zutrauen erregt. 
Er legte die Hand lange ans mein Herz, um die Bewegung 
desselben zu beobachten, endlich äußerte er, daß bei einem so 
anomalen Zustande nichts übrig bleibe, als Versuche. Er bat 
mich späterhin sogar, einige ältere französische Abhandlungen 
über Herzkrankheiten nachzulesen, da ihm seine vielfachen Ges 
schäfte und die Untersuchungen über das menschliche Gehirn, 
welche er eben vorhatte, dies selbst zu thun nicht erlaubten. 
Er sendete mir wirklich Bücher und ich habe ihm daraus 
rcferirt, kann aber doch ein solches Studium nicht empfehlen. 
Ob nun die gebrauchten Mittel: Einreibungen starker Essenzen, 
Eisen - und Sohlbäder, Elektrisieren, von Wirkung waren, 
oder ob der Rath, den mir Reil ertheilte, eine Veränderung 
in den Gewohnheiten des äußeren Lebens anzufangen und 
regelmäßig eine Zeit lang durchzusetzen, oder das Fernhalten 
jeder Arbeit und Anstrengung und die Spaziergänge in den 
reizenden Gegenden von Giebichenstein das Wohlthätigste wa 
ren, weiß ich nicht, aber ich mußte doch am Ende der Kur 
eine Beßerung meines Zustandes anerkennen. Ich blieb bis 
zum Herbst in Halle, und erfuhr von der Familie des Kapell 
meisters Reichardt, die mich eigentlich zu der Reise dorthin 
bestimmt hatte, die herzlichste Freundschaft. Reichardt war 
bei manchen Eigenheiten und einem starken Selbstgefühl ein 
Mann von leicht bewegtem, edlem Herzen. Unter seinen 
musikalischen Erzeugnissen stelle ich die Kompositionen zu 
Göthe's Liedern oben an. Wer sie von den Gliedern seiner 
Familie hat vortragen hören, hat sie vielleicht erst in ihrem 
ganzen Werthe kennen gelernt. Bei dem jetzigen Geschmack 
für eine Musik, die nicht Reitze genug anhäufen kann, Mozart's 
Werke nur im Ganzen für schön, im Einzelnen für längst 
übertroffen hält, sind diese Kompositionen meist zurückgestellt; 
einem einfachen Geschmack, der die natürlichen Früchte lieber, 
als den siebenmal abgezogenen Geist genießt, und in den über 
füllten Blumen eher einen krankhaften Trieb, als eine Schön 
heit erkennt, sagen sie vielleicht wieder zu. 
Die Theilnahme an den großen Ereignissen jenes Som 
mers war allgemein: es war in jener Periode das Letztemal, 
wo die Hoffnung einer Befreiung aufleuchtete. Der Kriegs 
schauplatz war nicht so sehr fern, das Korps des Herzogs von 
Braunschweig-Oels und eine Abtheilung der Schillischen Hu 
saren zogen nach einander durch Halle. Ich sah den Herzog
	        

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