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W. K. Grimm.
den Bericht anhörend, die großen, blauen Augen unverwandt
auf mich richtete. Er war eine große Gestalt und in den
festen, fast scharfen Gesichtszügen lag zugleich etwas Mildes,
in seinem ganzen Wesen aber die Sicherheit und volle Ueber
zeugung, die bei einem Arzte so sehr das Zutrauen erregt.
Er legte die Hand lange ans mein Herz, um die Bewegung
desselben zu beobachten, endlich äußerte er, daß bei einem so
anomalen Zustande nichts übrig bleibe, als Versuche. Er bat
mich späterhin sogar, einige ältere französische Abhandlungen
über Herzkrankheiten nachzulesen, da ihm seine vielfachen Ges
schäfte und die Untersuchungen über das menschliche Gehirn,
welche er eben vorhatte, dies selbst zu thun nicht erlaubten.
Er sendete mir wirklich Bücher und ich habe ihm daraus
rcferirt, kann aber doch ein solches Studium nicht empfehlen.
Ob nun die gebrauchten Mittel: Einreibungen starker Essenzen,
Eisen - und Sohlbäder, Elektrisieren, von Wirkung waren,
oder ob der Rath, den mir Reil ertheilte, eine Veränderung
in den Gewohnheiten des äußeren Lebens anzufangen und
regelmäßig eine Zeit lang durchzusetzen, oder das Fernhalten
jeder Arbeit und Anstrengung und die Spaziergänge in den
reizenden Gegenden von Giebichenstein das Wohlthätigste wa
ren, weiß ich nicht, aber ich mußte doch am Ende der Kur
eine Beßerung meines Zustandes anerkennen. Ich blieb bis
zum Herbst in Halle, und erfuhr von der Familie des Kapell
meisters Reichardt, die mich eigentlich zu der Reise dorthin
bestimmt hatte, die herzlichste Freundschaft. Reichardt war
bei manchen Eigenheiten und einem starken Selbstgefühl ein
Mann von leicht bewegtem, edlem Herzen. Unter seinen
musikalischen Erzeugnissen stelle ich die Kompositionen zu
Göthe's Liedern oben an. Wer sie von den Gliedern seiner
Familie hat vortragen hören, hat sie vielleicht erst in ihrem
ganzen Werthe kennen gelernt. Bei dem jetzigen Geschmack
für eine Musik, die nicht Reitze genug anhäufen kann, Mozart's
Werke nur im Ganzen für schön, im Einzelnen für längst
übertroffen hält, sind diese Kompositionen meist zurückgestellt;
einem einfachen Geschmack, der die natürlichen Früchte lieber,
als den siebenmal abgezogenen Geist genießt, und in den über
füllten Blumen eher einen krankhaften Trieb, als eine Schön
heit erkennt, sagen sie vielleicht wieder zu.
Die Theilnahme an den großen Ereignissen jenes Som
mers war allgemein: es war in jener Periode das Letztemal,
wo die Hoffnung einer Befreiung aufleuchtete. Der Kriegs
schauplatz war nicht so sehr fern, das Korps des Herzogs von
Braunschweig-Oels und eine Abtheilung der Schillischen Hu
saren zogen nach einander durch Halle. Ich sah den Herzog