W. K. Grimm.
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Lebens erinnert, und wir die Natur frei auf unsere Gedan
ken wirken lassen; ungesucht und unerwartet ist mir hier oft
das beste eingefallen. Darum gewöhne ich mich auch am letz
ten an eine neue Gegend, und unter so manchen schönen Punk
ten, die ich hier in Göttingen sehe, erscheint mir der Meiß
ner, den ich Jahre lang aus meinem Fenster in Kassel be,
trachten konnte, allein bekannt und zutraulich. Der Neigung
zum Zeichnen ist schon gedacht, auch ein gewisser Sammler-
geist zeigte sich frühe: schon damals brachten wir Insekten,
Schmetterlinge u. dgl. heim und zeichneten es ab und später
hin ward es noch fortgesetzt. Einiges hat sich davon erhal
ten und ich kann versichern, daß die Abbildungen nicht schlecht
gemacht und der geringen Muschclfarben ungeachtet treu illu-
minirt sind. Rechnet man dazu, daß wir niemals Unterricht
im Zeichnen erhalten haben, (damals war keine Gelegenheit,
hernach keine Zeit dazu), so darf man wohl einige natürliche
Anlage voraussetzen. Auch die radierten Blätter meines Bru
ders Ludwig, fast lauter Zeichnungen nach der Natur, deucht
mich, beweisen einen sicheren Blick. Genaue und sorgsame
Monographien, wie etwa Lyonets Werk über die Weiden,
raupe, haben immer meine Bewunderung erregt. Solche
Beiträge für die Wissenschaft können an Umfang gering seyn,
aber ihr Einfluß ist unberechenbar und ihr Werth unvergäng
lich. Geist, großartiger Sinn, Theilnahme an den höchsten
Fragen des Lebens werden sich auch hier nicht verläugnen,
sind sie nur wirklich vorhanden. Ich möchte am liebsten das
Allgemeine in dem Besondern begreifen und erfassen, und die
Erkenntniß, die auf diesem Wege erlangt wird, scheint mir
fester und fruchtbarer, als die welche auf umgekehrtem Wege,
gefunden wird. Leicht wird sonst als unnütz hinweg gewor
fen, worin sich das Leben am bestimmtesten ausgeprägt hat,
und man ergiebt sich Betrachtungen, die vielleicht berauschen,
aber nicht wirklich sättigen und nähren. — Im Herbst 1826
führten mich Geschäfte nach Steinau, wo ich in zwanzig Jah
re» nicht gewesen war. Der wohlbekannte, viereckige Schloß
thurm, von welchem Sonntags, wenn wir nach der Kirche
mit der Mutter in feierlicher Stille an dem Schloßgarten
hergiengen, die Posaunen einen Choral ertönen ließen, die
Kirchen und andere höhere Gebäude zeigten sich an dem rei
nen Himmel aus der Ferne ganz wie sonst; in der Nähe war
Manches verändert, neue Häuser waren auf fruchtbare Gar
ten-Felder gebaut, ein paar Thürme über den Stadtthoren ab,
getragen, ein Theil des Schlosses, den noch die Mutter des
verstorbenen Kurfürsten (eine Prinzessin von Engelland, Toch
ter Georg H.) bewohnt hatte, war in der französische« Zeit