106
W,. K. Grimm.
bendkgste. Der Großvater, Kanzlekrath Zimmer, schon da
mals hoch bejahrt, lebte im Ruhestand. Er war um die Per
son des Landgrafen Wilhelm VM. gewesen, als der sieben,
jährige Krieg diesen Fürsten nöthigte, sein Land zu verlassen,
und eine gleichmäßige Freundlichkeit, Milde und Nachsicht
war ihm wohl aus dieser Stellung eigen geworden. Er star^
oder vielmehr er schlief ohne Krankheit ein im Jahr 18V? o
in einem Alter von fast SV Jahren, noch im vollen Besitze
seiner Geisteskräfte; die Großmutter war ihm, doch auch
schon sehr bejahrt, vorangegangen. Beide behandelten uns
mit jener großen Zärtlichkeit, die Enkeln gewöhnlich zu Theil
wird, und ich erinnere mich noch sehr gut, wie der Großva
ter, wenn wir späterhin ihn von Steinau aus besuchten, oft
stundenlang sich zu uns setzte, seine zitternde Hände auf den
Tisch legte und zusah, wie wir aus Niebuhrs arabischer Reise
die Kupfer kopierten. Bis zu seinem Ende, als er die Feder
nur noch mit Mühe halten und nur mit großer Anstrengung
schreiben konnte, ertheilte er uns in Briefen die liebreichsten
Lehren. — Des Abzuges der Aeltern nach Steinau erinnere
ich mich noch als eines wichtigen Ereignisses; ich saß im Wa
gen auf einem Kästchen zu Füßen der Mutter und sah den
blühenden Weißdorn an den Fenstern der Kutsche vorbeieilen,
wenn diese zwischen Hecken hinfuhr. Ich kann übergehen, was
Jakob schon von unserm Aufenthalte in Steinau erzählt hat.
Ich erfreute mich in der ersten Jugend der vollkommensten
Gesundheit und that es darin allen Geschwistern zuvor; ich
erinnere mich nicht einmal eines leichten Uebelbefindens und
selbst die Blattern, an welchen wir Geschwister alle darnieder
lagen, konnten mir nichts anhaben. Jakob war von dieser
furchtbaren Krankheit heftig ergriffen, das ganze Gesicht, auch
die Augen waren bedeckt, und fünf oder sechs Tage lag er
völlig erblindet. Ich weiß noch, wie er nach seiner Genesung
zum erstenmal an einem sonnigen Tage spazieren gefahren
wurde, und mit dem fleckigen und . narbigen Gesichte, aber
ganz unentstellten Zügen, im Wagen saß. Die Narben sind
hernach bis auf wenige Spuren völlig verschwunden und der
natürliche Ausdruck hat im mindesten nicht gelitten. Die Ge
gend von Steinau hat etwas angenehmes. Oft sind wir zu
sammen in den Wiesenthälern und auf den Anhöhen umherge
gangen; der Sinn für die Natur mag uns, wie Vielen, an
geboren seyn, aber er ist doch auch auf diese Art genährt
und begünstigt worden. Noch jetzt weiß ich nichts, was so
sicher die friedliche Stimmung der Seele, in welcher alles
Glück beruht, Hervorrufe, als ein einsamer Spaziergang, wü
kein Gespräch und Unterhaltung uns an die Bemühungen des