© Hessisches Staatsarchiv Marburg, Best. 340 Grimm Nr. L 212
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unbefchränkt. Noch fechshundert Jahre fpäter wufste Karl der Grofse,
begierig die Nachwelt mit den Thaten und Kriegen der Vorfahren bekannt
zu machen, kein anderes Mittel, als eben diefe »uralten Volksgefänge.« 1
Wenn er, wie fchon Tacitus, der Anficht war dafs in denfelben wirkliche
Gefchichte fei, fo verpflichtet uns difs nicht gleiches zu glauben; viel
mehr hat aus dem Bisherigen wohl genügend erhellt dafs darin die alten
I Göttergeftalten fortlcbten, die der vernichtenden Zeit gegenüber ihr
Dafein nur zu retten vermochten, indem fie die Namen von Helden der
eben entfchwundenen Gefchlechter entlehnten, oder diefelben wenigftens
in ihren Kreifs hereinzogen.
Es ift kaum zu zweifeln dafs fchon die alten Götterfagen fich in
Form von Volksgefängen fortgeerbt hatten; als Probe davon kann man
das kleine Lied von Balder’s Pferd anfehen, das vor einigen Jahren in
Merfeburg entdeckt worden ift. Einer fpäteren Zeit, welche den Ueber-
gang des alten Sagengehaltes aus der Götterwelt in die Heldenwelt fchon
hinter fich hat, gehört das Hildebrandslied an. Von allen Reften der
Vorzeit ift wohl keines geeigneter uns eine Vorftellung von den alten
Gefangen zu geben, mittelft welcher nach Tacitus und Eginhard die
Germanen des erften Jahrtaufends unferer Zeitrechnung die Thaten der
/ Ahnen zu befingen glaubten.
Es fragt fich weiter wie man fich die Entftehung jener Gelange
denken müfse. Ohne Zweifel gieng es bei diefen Volksliedern der alte
rten Zeit nicht anders her als bei denen der fpäteren: ein Einzelner,
durch angeborene Gabe dazu berufen, giebt dem was alle befchäftigt
den glücklichen Ausdruck. Da er fich nur als den Herold einer allgemein
bekannten Sache betrachtet, fo legt er nicht einmal grofsen Werth darauf
dafs gerade von ihm die Geftaltung ausgeht, und fein Name verhallt.
Weil er aber gleichfam aus dem Geift und Gefühl aller gefungen hat, fo
bleibt fein Werk in den Hauptzügen, d. h. in den Begebenheiten; da es
aber nur mündlich überliefert wird, allgemeines, lebendiges Volkseigen
thum ift, fo befindet fich alles übrige daran in ftätem Wechfel, und
jede Zeit geftaltet ein folches Lied in ihrem Geifte neu. Jener Wechfel
trifft aber nicht blofs das äufserliche, z. B. die Sitten und Vorftellungen,
welche dem Bild Farbe geben, die Sprache, das Versmaafs u. dgl., fondern
1 Barbara el antiquiJTfima carmina, quibus veterum aclusetbella canebantur, fcripfilme-
moriaeque mandavit. Vila Caroli auctore Eginhardo, Cap. XXIX.
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