Full text: Gudrun

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fortleben in ein Heldengedicht zu verarbeiten, hat gleich jeder andern 
Kunft ihre Jugend, ihre Reife, ihr Verwelken, und wir können im Allge 
meinen behaupten, dafs das Ungelenkere früher fei als das was fich 
leichter bewegt. In Deutfchland ift jene Kunft, wie ich fchon oben (S. X) 
berührt habe, auf Anregung der Franzofen durch die höfifchen Dichter 
geweckt worden, und als ihren erften Verfuch, fofern fie fich an hei- 
mifche Stoffe gewagt hat, dürfen wir das Nibelungen-Lied anfehen. Da 
nun diefes ungefähr ins Jahr 1210 gefetzt werden mufs, 1 fo haben wir für 
die Gudrun einen erften Anhalt, über welchen wir fie auf keinen Fall 
zurückfchieben dürfen. Eine Beftätigung hievon liegt darin dafs einer 
der hegelingifchen Helden Wigaleis heifst (582. 715. 759). Der Name 
Wigaleis oder Wigalois ift in Deutfchland zuerft durch das gleichnamige 
Gedicht Wirnts von Grafenberg eingeführt worden, das nach Beneke 2 
auf keinen Fall fpäter als 1228, und vermuthlich um 1212 entftanden ift. 
Wir hätten demnach zwei Beweife dafür dafs die Gudrun früheftens 
zwifchen 1210 und 1220 entftanden fein kann. Um vieles fpäter jedoch 
wird fie auch nicht zu fetzen fein, da fchon gegen die Mitte des Jahr 
hunderts hin rauhe Schickfale den Geift der Deutfchen ernfter, düfterer 
ftimmten als er fich in der Gudrun zeigt. Die erfte Hälfte von Fride- 
richs II. Reichsverwaltung war für Deutfchland die letzte Zeit eines 
fröhlich unbeforgten Dafeins. Mit der fonach wahrfcheinlichen Annahme 
dafs die Entftehung des Gedichtes in die Zeit zwifchen 1210 und 1240 
falle, ftiinmt auch das Bild des Lebens zufammen wie es der Dichter in 
feiner Zeit gefchaut und der Dichtung einverleibt hat. Ueber diefe Seite 
derfelben giebt A. Schulz in feiner Gudrun (S. 228. 229) lefenswerthe 
Bemerkungen. 
Mit dem Verhältnis halber Abhängigkeit in welchem die Gudrun 
zum Nibelungen-Liede fleht, hängt ohne Zweifel auch zufammen dafs 
wir von ihr blofs Eine Handfchrift befitzen, während fich von diefem fo 
viele, theils ganz, theils in Bruchflücken nachweifen laffen. Das Nibe- 
lungen-Lied war offenbar von der Zeit noch fo begünftigt, dafs es neben 
den beliebten Hofdichtungen als ebenbürtig galt, mithin hoffähig ward 
und lang im Schwange blieb. Die Gudrun, fchon als Nachahmung, wenn 
man das Wort nicht misverftehen, d. h. nicht auf den Stoff, fondern 
1 Lachmann, Zu den Nibelungen (Berlin 1836) S. 1 und 51. 
2 Benecke, Wigalois (Berlin 1819) S. XXII. 
Giidrün, V
	        
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