Full text: Gudrun

&& lxiv 
Zeit, wo zwar der Name diefer Räuber noch leine fchreckenerregende 
Kraft befafs, das Andenken an ihre nordifche Heimat aber von der That- 
fache ihrer Anfiedlung im nördlichen Frankreich fchon Verfehlungen war, 
alfo nicht wohl früher als am Ende des 10 Jahrhunderts. Wir bekom 
men demnach für diefe mehr dem Norden entftammende Sage ein weit 
jüngeres Alter als für die von den Nibelungen, die fich, nach ihren 
gefchichtlichen Beftandtheilen zu fchliefsen, im 5. und 6. Jahrhundert 
gebildet haben mufs. Was in der Gudrun auf die Kreuzfahrten Bezug 
hat, z. B. die Wegnahme der Pilgerfchitfe die ein Kreuz im Segel führen, 
vielleicht auch die Erwähnung Portugals, als eines Landes wo Horand 
und Fruote geftritten haben (222) — das hat fpätere Hand dem fertigen 
Sagenbild eingezeichnet. Mit andern chriftlichen Zügen, z. B. der ftark 
hervorgehobenen Kloftergründung auf dem Wülpenfand, ift es natürlich 
derfelbe Fall. 
So viel von Entftehung der Sage. Getrennt hievon mufs die Ent- 
ftehung des Liedes betrachtet werden. Wie fo oft fchon, müfsen wir auch 
hier wieder einen Blick auf die nächft verwandte Dichtung, die von den 
Nibelungen, werfen. Allem Anfcheine nach hat fie dem Dichter oder 
Ordner der Gudrun als Vorbild gedient. Man erinnert in diefer Hinficht 
vornemlich an die zahlreichen Stellen welche die Gudrun mit den 
Nibelungen gemein hat. Sie find in Hägens Ausgabe verzeichnet, bei 
Ziemann äufserft bequem zufammengeftellt, und auch von unferem 
Herausgeber in den Lesarten wenigftens theilweife, durch eiji beigefügtes 
N, hervorgehoben. Doch wiegt diefer Beweis nicht allzufchwer, eines 
Theils weil das frühere Dafein der Nibelungen erft bewiefen werden foll, 
und weil, fo lange das nicht gefchehcn ift, auch das Nibelungen-Lied das 
entlehnende fein könnte; andern Theils weil diefes Zufammentreften feinen 
Grund eben fo gut in der mächtigen Geltung einer gemeinfamen Sänger- 
fprache haben kann, als in unfreier Nachahmung. Von höherem Werthe 
fcheint mir dafs die Gudrun als dichterifches Ganzes über dem Nibelungen- 
Liede fteht. Es fehlt zwar auch in ihr nicht an Spuren davon, dafs der 
Kunftfinn der Deutfchen damals noch nicht weit genug gediehen war 
um dem widerftrebenden Stolle die vollkommen leichte, fchöne Form ab 
zuzwingen; aber doch ift es ihr weit mehr geglückt als dem Nibelungen- 
Lied, ungefähr in demfelben Verhältnis wie ein zweiter Verfuch insgemein 
beffer gelingt als der erfte. Die Kunft, einzelne Gefänge die mündlich
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.