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erregenden Einfälle jener wilden Seeräuber! Auf He [häufte fich wohl
noch manches Jahrhundert nach ihrem Verfchwinden alles was dem
Volke von Kriegsjammer im Gedächtnis lag; ungefähr wie difs in vielen
Gegenden von Deutfchland ohne Weiteres auf Rechnung des Schweden
krieges kommt. Die Normannen der Gudrun wohnen zwar in der Nor
mandie, wo 912 Rollo das berühmte Herzogthum gegründet und benannt
hat; das beweift aber blofs, dafs die gegenwärtige Faffung der Sage fich
aus einer Zeit herfchreibt wo von jenen Einfällen nur noch dämmernde
Kunde gieng, wo man alfo die früheren fcandinavifchen Nordmannen und
die fpäteren franzöfifchen Normannen wohl verwechfeln konnte. Dafs
difs der Fall gewefcn ift, dafs in der urfprünglichen Sage nur die erfteren
gemeint waren, fchimmert noch in der jetzigen Faffung durch: aus der
Normandie nach Friesland kann man auch ohne Schiffe kommen, das
Lied fetzt aber überall den Seeweg als den einzig möglichen voraus, fo
dafs z. B. Hetel, wie er den Räubern feiner Tochter nachfetzen will
(Str. 837), keinen andern Gedanken hat, und dafs nach dem ganzen
Zufammenhang ohne die Wegnahme der Pilgerfchiffe von Verfolgung die
Rede gar nicht fein könnte.
Doch liefse fich diefer Irrthum vielleicht noch anders erklären. Allem
Anfcheine nach war der Mann welchem wir die vor uns liegende Geftal-
tung der Sage verdanken, mit ihrem Schauplatz nicht vertraut; derfelbe
liegt ihm in einer ungewiffen Ferne, was ihm geftattet Glaubliches und
Unglaubliches leichthin zu vcrmifchen, fo dafs z. B. die Könige des
Gedichts in fremdartig benannten Burgen wohnen: Hettel in Campatille
und Matelane, 1 Hagene inBalian, die normännifchen in Kaffiane, Sigfrid
in Karadin; dafs ferner der Friefe Hetel auch über Waleis (Wales oder
Cornwallis), das gelobte Land der Artus-Sagen, herfcht; dafs ein heid-
nifcher Mohrenkönig von den Friefen befiegt wird, fpäter mit ihnen gegen
die Normannen kämpft; dafs man auf der Fahrt von Friesland nach der
Normandie an dem Wunderlande Gifers vorbeikommt, wo Magnetberge
Gefahr drohen, und wo die Menfchen goldene Baufteine haben, zu denen
fie den Mörtel mit filberhaltigem Sande bereiten (1126 ff.) Vielleicht
gehört hiehcr auch dafs die Flotte der Friefen mit Holz aus dem Wefter-
walde gebaut wird (945), was wohl einem niederdeutfchen Manne nicht
1 IVletelen bei Münfter, unfern der preufsifch-hannöverifch-holländifchen Grenze, kann
nicht gemeint fein, da Matelan als an der See liegend gedacht wird (Str. 749 ff. 1106 ff.)