Full text: Gudrun

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mit dem erwachenden Bewufstfein der menfchlichen Erkenntnis. Daher 
hatte die Götterfage der Griechen fchon zu Homers Zeit gefchichtlichen 
Schein gewonnen; nicht Götter kämpfen mehr, fondern Menfchen, von Göt 
tern befchützt, und kaum noch find ein Achill, ein Aeneas Götterföhne. 
In Deutfchland war diefe Wandlung natürlich bei Weitem fpäter eingetreten 
als in Griechenland, aber doch früher als bei den Scandinaviern. So er 
klärt fich warum ein Snorro, felbft ein Saxo, noch lebhafte Nachhalle der 
heidnifch einfachen älteften Geftalt der Sage von Hilde-Gudrun erlaufchen 
und niederfchreiben konnten; warum dagegen bei ihren deutfehen Zeit- 
genoffen die Grundzüge derfelben unbegriffen, verfchoben, übermäfsig 
vervielfältigt erfcheinen. 
Damit follen ihre Berichte, vornemlich das Gudrun-Lied, keineswegs 
herabgefetzt werden. Es hat fich hier aus den alten Baufteinen, die fo 
wunderbar gewachfen find wie Jefu Brot und Fifche, ein neuer gröfserer 
Bau erhoben, und anftatt des vergeffenen alten Sinnes ein andrer darin 
feine Wohnung genommen. Der Aufenthalt der geraubten Jungfrau bei 
ihrem Entführer ift nicht mehr zur Hälfte freiwillig, vielmehr bewährt fie 
freudig in jahrelanger Schmach die Treue die fie dem Verlobten fchuldig 
ift; und wie das Nibelungen-Lied, fo kann auch die Gudrun ein Lobgefang 
jener Treue heifsen, durch welche die Deutfehen jener Zeit das Denkbild 
des Ritterthums mit einem fo wunderbaren Glanz umgaben. 
Wie jedoch in der Gefchichte niemals ein neuer Zuftand den alten 
bis auf die letzten Tropfen auffaugt, fo finden fich auch hier manche Spu 
ren der alten Jahrfage noch unverwifcht: Hilde und ihre Jungfrauen find 
während ihres Aufenthalts in Kaffiane von Gott vergeffen (Str. 1036), wie 
Zeus 
weg von jenen Finsternissen 
wendet sein beglücktes Haupt; 
fie müfsen mit ftraubendem Haar und in fchlechter Kleidung die niedrigften 
Arbeiten verrichten (1299), fchmücken fich aber dem Erretter entgegen 
(1301 ff.), wie auch die Jungfrauen auf der Greifeninfel durch die Speife 
die ihnen Hagen bringt, fchnell wieder fchön werden (105). Was ift das 
alles anders als eine Schilderung des armfcligen Zuftands in dem der feind 
liche Winter, hier der Greif und Gerlinde, die Pflanzenwelt halten; aus 
dem fie aber mit unwidcrftehlicher Macht im Frühling hervorbricht! Und
	        

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