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der Zeit wo die beiden von der Schrift ereilt werden. Diefes Ereignis ift
für beide fo wichtig, dafs Mancher den Stoff nur wiefern er gefchrieben
vorliegt überhaupt gelten läfst, darf aber, wenn ein rechtes Yerftändnis
eintreten foll, doch nicht in diefem Umfang überfchätzt werden. Näher
angefehen befteht jenes Ereignis darin, dafs denkende Männer mit Bewufst-
fein aus dem überreichen Stoff einen Theil ausfcheiden, und mit Hilfe der
Schrift künftlerifch geftalten.
Das alfo Gewonnene lebt ein höheres, ftolzeres Leben, hat auch Aus
ficht auf die Nachwelt überliefert zu werden; ift aber dafür dem Wefen
der Sache nach ärmer, welkt rafcher. Was hingegen von der kunftmäfsigen
Fefthaltung nicht ergriffen wurde, führt fein bisheriges Leben fort, bleibt
frifch, aber auch roh; reich, aber auch ungeordnet. So fteht auf dem
Sprachgebiete die Menge der Mundarten der Schriftfprache; auf dem Sa
gengebiet eine Fülle von einzelnen Mährchen, Sagen und erzählenden
Liedern dem gerundeten Heldenlied gegenüber. Gemeinfam ift beiden Ge
bieten auch dafs der kunftmäfsig entwickelte Stoff; weil er fich fchneller
verlebt, durch wiederholte Berührung mit dem frei gebliebenen erfrifcht
werden mufs. Die Wiedergeburt der Sprache, durch Erneuung aus den
Mundarten, gefchieht theils fortwährend unmerklich, theils in grofsen
Zwifchenräumen und dann ftürmifcher; aus den taufend Bächen in welche
beim Volk der alte Sagenfchatz auseinandergegangen ift, fchöpfen begabte
Geifter bald in unbewufster Thätigkeit; wie Hebel; bald mit laut angekün
digter, wie z. B. die Romantiker, für den alten Leib der Dichtung neuen
verjüngenden Trank.
Endlich läfst fich die Sage mit der Sprache, wenigftens was Deutfeh-
land betrifft, noch darin vergleichen, dafs der Anftofs zu kunfsmäfsiger
Ausbildung für beide von aufsen gekommen ift. Glaubensboten von den
brittifchen Infein und aus Italien haben uns die Schrift gebracht, und durch
fie zuerft den rohen Stoff unfrer Sprache zu zähmen verfucht. Ebenfo find
ihre Nachfolger in den Klöftern die erften gewefen, welche die deutfehe
Heldenfage feftzuhalten und künftlerifch zu geftalten verfuchten. _ Auch
ein fpäterer Anftofs, der zur Abfaffung der grofsen Heldengedichte des
12. und 13. Jahrhunderts, ift den Deutfchen aus der Fremde gekommen.
Denn der Gedanke die Sagen von Sigfrid und Krimhilde im Nibelungen-Liede,
die von den grofsen Kämpfen um eine fchöne Jungfrau in der Gudrun zu abge
rundeten Dichtungen zu verarbeiten, ward erft gefafst, nachdem wir durch die