DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
ZI
nacheilen machte in alle Zeit bis hin zum ewigen Ende. Wir
schauen so in unserm Herzen das treue Gleichnis der Wahr
heit, doch wenden wir uns dafür vom zeitlichen Leben ab und
das Leben der Zeit sich von uns. Jene hingegen laufen dem
Strom der Zeit nach, aber sie haben die Wahrheit nur im
Rücken; sie werden wohl von ihr geleitet, denn sie folgen
ihren Strahlen, aber sie sehen sie nicht mit Augen. Die Wahr
heit, die ganze Wahrheit, gehört so weder ihnen noch uns.
Denn auch wir tragen sie zwar in uns, aber wir müssen des
wegen auch den Blick erst in unser eignes Innre versenken,
wenn wir sie sehen wollen, und da sehen wir wohl den Stern,
aber nicht — die Strahlen. Und zur ganzen Wahrheit würde
gehören, daß man nicht bloß ihr Licht sähe, sondern auch, was
von ihr erleuchtet wird. Jene aber sind ohnehin schon in alle
Zeit bestimmt, Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht.
Und so haben wir beide an der ganzen Wahrheit nur teil.
Wir wissen aber, daß es das Wesen der Wahrheit ist, zu teil
zu sein, und daß eine Wahrheit, die niemandes Teil ist, keine
Wahrheit wäre; auch die »ganze« Wahrheit ist Wahrheit nur,
weil sie Gottes Teil ist. So tut es weder der Wahrheit Ab
bruch noch auch uns, daß sie uns nur zuteil wird. Unmittel
bare Schau der ganzen Wahrheit wird nur dem, der sie in
Gott schaut. Das aber ist ein Schauen jenseits des Lebens,
Lebendiges Schauen der Wahrheit, ein Schauen, das zugleich
Leben ist, wächst auch uns nur aus der Versenkung in unser
eignes jüdisches Herz und auch da nur im Gleichnis und Ab
bild. Und jenen ist um des lebendigen Wirkens der Wahrheit
willen das lebendige Schauen überhaupt versagt. So sind wir
beide, jene wie wir und wir wie jene, Geschöpfe grade um des-
sentwillen, daß wir nicht die ganze Wahrheit schauen. Grade
dadurch bleiben wir in den Grenzen der Sterblichkeit. Grade da
durch — bleiben wir. Und wir wollen ja bleiben. Wir wollen ja
leben. Gott tut uns, was wir wollen, solange wir es wollen. So
lange wir am Leben hängen, gibt er uns das Leben. Er gibt uns
von der Wahrheit nur, soviel wir als lebendige Geschöpfe tragen
können, nämlich unsren Anteil. Gäbe er uns mehr, gäbe er